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Experten-Interview Dezember 2019



Trauerarbeit braucht Zeit – Trauerbegleitung für Gehörlose

Savina Tilmann ist Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache und Heilpraktikerin für Psychotherapie (Prüfung). Zu ihren Spezialgebieten gehören Trauma-Arbeit und Trauerbegleitung.

 

Frau Tilmann: Wenn man einen geliebten Menschen verliert, trauert man. Kann man diesen Verlust alleine verarbeiten oder sollte man lieber professionelle Hilfe in Anspruch nehmen?

Man kann einen Verlust natürlich auch alleine verarbeiten. Es ist nicht immer leicht, wenn man es alleine tun muss. Wenn man schon einmal getrauert hat, dann hat man schon eine Erfahrung, auf die man zurückgreifen kann. Man kennt das Gefühl, in einem tiefen Loch zu sitzen und zu denken, dass man dort nie wieder herauskommt. Man kennt aber auch das Gefühl, wieder zurück im Leben anzukommen. Wenn ich so eine Erfahrung schon einmal gemacht habe, ist es beim nächsten Mal leichter. Außerdem ist es leichter, wenn es Menschen gibt, die für mich da sind, wenn ich trauere. Gute Freunde oder tolle Familienmitglieder sind eine gute Unterstützung.

Wenn ich niemanden habe, der mich unterstützen kann, wenn ich noch nie eine solche Erfahrung gemacht habe, wenn der Verlust besonders traumatisch war (brutaler Unfall, Selbstmord oder Mord oder sehr schneller und unerwarteter Tod), dann ist es oft hilfreich, wenn man professionelle Hilfe in Anspruch nimmt.

 

Was beinhaltet Trauerarbeit für die Betroffenen?

Man hat etwas verloren, was wichtig war. Das kann ein Mensch sein, das kann die Arbeit sein, das kann die Beziehung sein, und vieles mehr. Im Grunde genommen geht es bei der Trauerarbeit darum, sich in einem „neuen“ Leben zurechtzufinden, indem das, was man verloren hat, nicht mehr anwesend ist. Das Leben ist aber trotzdem wieder schön.

Zuerst tut es einfach nur weh, wenn man etwas verliert. Am Ende der Trauerarbeit kann man sich darüber freuen, dass man das einmal hatte – auch wenn es jetzt nicht mehr da ist. Man kann sich über Erinnerungen über Fotos, über Erlebnisse freuen. Am Anfang tut das nur weh. Und die Trauerarbeit ist dieser Prozess.

 

Trauern Männer und Frauen unterschiedlich?

Ja, das tun sie. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, aber in der Regel ist es so, dass Frauen mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz eher nach außen gehen. Sie suchen die Kommunikation, sie suchen die Freunde und den Kontakt. Sie zeigen auch ihre Gefühle offen: Sie weinen, sie schreien und sind verzweifelt.

Männer sind genauso verzweifelt und natürlich auch genauso traurig, aber sie zeigen ihre Emotionen oft nicht so offen und suchen auch weniger das Gespräch oder den Kontakt zu anderen Menschen.

Bei schwerer Trauer kann man feststellen, dass die Frauen häufiger zuhause bleiben und lange krankgeschrieben sind, weil sie nicht mehr arbeiten können. Die Männer hingegen gehen oft sehr schnell wieder arbeiten, weil sie auch einen Halt in dieser Struktur finden. Also tief im Inneren trauern Männer und Frauen nicht unterschiedlich, aber das, was sie zeigen und wie sie damit umgehen, ist sehr unterschiedlich.

 

Unsere Gefühle sind individuell, daher ist Trauer auch sehr individuell. Gibt es doch einige Tipps, die für unsere Leser hilfreich sein könnten?

Ja, das ist wahr: Trauer ist sehr individuell. Es gibt 7 Milliarden unterschiedliche Menschen auf der Erde, und damit gibt es 7 Milliarden unterschiedliche Formen von Trauer. Es gibt nichts, was immer so sein muss oder was nie sein darf. Manche Trauernde freuen sich über Ablenkung, andere möchten nicht abgelenkt werden, sondern lieber über ihren Verlust sprechen. Einige wünschen sich, dass man sie in den Arm nimmt, andere lehnen jede Berührung ab und brauchen erstmal Zeit und Raum für sich selbst. Es gibt Trauernde, die gefragt werden möchten, wie es ihnen geht. Und es gibt aber auch Trauende, die es unhöflich empfinden, weil doch klar ist, dass es ihnen nicht gut geht.

Ein hilfreicher Tipp ist also immer, den Trauernden zu fragen, was er braucht und was für ihn gut ist. „Möchtest du darüber sprechen?“, „Möchtest du in den Arm genommen werden?“, „Mit was könnte ich dir helfen?“, usw. das sind gute Fragen, um einem Trauernden zu begegnen. Denn so hat der Trauernde selbst die Entscheidung, wie man ihm am besten helfen kann

 

Trauerarbeit braucht Zeit….

Es gibt mehrere definierte Trauerphasen. Das bekannteste Modell ist von Verena Kast. Sie unterscheidet vier unterschiedliche Phasen:

Erste Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen. In dieser Phase stehen die Betroffenen noch unter Schock. Sie dauert einige Stunden bis zu einige Wochen.

Zweite Phase ist die Phase der aufbrechenden Emotionen. Hier kommen die ganzen starken Emotionen wie Traurigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Angst, Wut und viele andere zum ersten Mal so richtig zum Vorschein. Hier stellen sich die Betroffenen immer wieder die Frage „warum?“. Bei manchen Betroffenen dauert diese Phase nur ein paar Wochen, sie kann aber auch mehrere Monate dauern.

Dritte Phase: die Phase des Suchens und sich Trennens. In dieser Phase setzen sich die Trauernden sehr intensiv mit dem Verlust und der Vergangenheit auseinander. Es wird viel über das gesprochen, was man verloren hat. Diese Phase dauert Wochen, Monate oder sogar Jahre.

Vierte Phase: die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs. Das bedeutet, dass die Trauernden in dieser Phase wieder einen neuen Bezug zur Welt bekommen. Sie können wieder lachen und sich an schönen Dingen freuen. Sie haben wieder Lust und Freude auf eine Zukunft und machen auch wieder Pläne für die Zukunft. Auch diese Phase kann mehrere Monate dauern.

 

Im besten Fall dauert ein guter Trauerprozess also so etwa ein bis zwei Jahre, es kann aber auch sieben oder zehn Jahre dauern. Menschen, die ein Kind verloren haben, trauern zum Beispiel fast immer sehr viel länger.

 

Der Verlust des Haustieres, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust durch Trennung, Krankheit, unerfüllter Kinderwunsch oder ein Unfall können ebenfalls zur Trauer führen. Wie kann man diese Art von Trauer verarbeiten?

Man verarbeitet die Trauer auf die gleiche Art und Weise. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es eben auch andere Ursachen für Trauer gibt als nur den Tod eines Menschen. Oft werden Menschen, die aufgrund einer anderen Ursache trauern, nicht ganz so ernst genommen. Das ist falsch und schmerzhaft, denn die Trauer verläuft wirklich ganz genauso wie beim Verlust eines Menschen – sogar mit denselben Trauerphasen.

 

Weihnachten steht vor der Tür und gleich folgt auch Silvester. Eine besonders belastende Situation ist das erste Weihnachten ohne den verstorbenen geliebten Menschen. Wie können Betroffene mit dieser Situation am besten umgehen? Wie können Freunde und Bekannte unterstützen?

Das stimmt. In dieser Zeit ist es besonders schmerzhaft, etwas oder jemanden zu vermissen, weil die Tage kürzer und dunkler sind, weil Menschen mit ihren engsten Angehörigen zusammenrücken und schöne Dinge gemeinsam tun, und weil einem in dieser Zeit am meisten auffällt, wenn etwas fehlt.

Als Trauernder selbst ist es gut, sich ganz klare Gedanken dazu zu machen, was die beste Möglichkeit wäre, die Feiertage zu verbringen (ich möchte allein sein, ich möchte auf gar keinen Fall allein sein, ich möchte in der Öffentlichkeit sein, ich möchte nur wenige Menschen um mich haben, ich möchte meine beste Freundin oder meinen besten Freund um mich haben, ich möchte verreisen,…). Wenn das klar ist, dann ist es wichtig, die Menschen zu informieren, mit denen man gerne diese Zeit verbringen möchte, damit sie sich drauf einstellen können. In letzter Minute ist das oft ein bisschen schwierig für alle Beteiligten.

Als Freund oder Nachbar oder Familienangehöriger kann ich mir überlegen, ob ich den Trauernden gerne zu mir einladen möchte (unbedingt vorher mit der eigenen Familie abklären, denn es werden vielleicht Tränen fließen), ob ich dem Trauernden anbieten möchte, zu ihm zu kommen, mit ihm gemeinsam zu verreisen, usw.

Wichtig ist, im Kontakt und im Austausch zu bleiben. Fragen Sie den Trauernden einfach, was Sie in dieser Zeit am besten für ihn tun können.

 

Sie leben seit einiger Zeit in der Schweiz und haben eine eigene Praxis. Was bieten Sie an, das Gehörlose in Deutschland auch in Anspruch nehmen können?

Für gehörlose Menschen, die akut in Trauer sind, biete ich Sitzungen über Skype oder Zoom an. Für Menschen, die in der Nähe der Schweiz wohnen natürlich auch Termine in meiner Praxis in Interlaken.

Leider gibt es noch nicht so viele  ausgebildete gehörlose Trauerbegleiter oder Trauerbegleiter, die fließend DGS sprechen, aber das soll sich im nächsten Jahr ändern!

 

Für Menschen, die daran interessiert sind, selbst Trauerbegleiter zu werden, wird es im nächsten Jahr einer Ausbildung an der Isolde-Richter-Schule geben.

Ich unterrichte dort normalerweise hörende Trauerbegleiter, aber da wir nun schon mehrfach die Anfrage von Gehörlosen bekommen haben, wird nächstes Jahr eine Trauerbegleiter-Ausbildung für Gehörlose starten. Die Seminare finden online statt, also als Webinar. Für die Teilnehmer ist es also wichtig, eine Webcam zu haben, damit wir im Unterricht miteinander kommunizieren können. Ich werde live in Deutscher Gebärdensprache unterrichten. Wenn jemand einmal nicht selbst dabei sein kann, gibt es von jeder Unterrichtseinheit auch noch eine Aufzeichnung, die man jederzeit im Nachhinein ansehen kann.

Wer Interesse daran hat, selbst Trauerbegleiter oder Trauerbegleiterin zu werden und DGS als Unterrichtssprache braucht, der ist herzlich eingeladen, an dieser Ausbildung teilzunehmen. Da ich im Moment noch dabei bin, die Termine zusammenzustellen, gibt es noch keine Anmeldemöglichkeit. Ab Ende Dezember kann die Schule weitere Auskünfte geben. Hier kann man per Mail anfragen. (Mail: isolderichter@gmx.de, Betreff: Trauerbegleiter für Gehörlose).

 

Vielen Dank für das Interview und schöne Feiertage wünsche ich Ihnen!

Sehr gerne! Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie dieses Thema aufgegriffen haben. Es ist so wichtig, und es wird so oft darüber geschwiegen!

Ich wünsche Ihnen ebenfalls schöne Feiertage, und kommen Sie gut ins neue Jahr!

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: MAMO Photography Interlaken

 

 

 
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