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Experten-Interview September 2012



Anette H. Borhani, die gehörlose Therapeutin, feiert 10-jähriges Firmenjubiläum

 

Aus diesem Anlass habe ich mich uns mit der erfolgreichen Unternehmerin unterhalten.

 

Judit Nothdurft: Frau Borhani, Sie sind ausgebildete Masseurin und medizinische Bademeisterin. Wie kam es vor Jahren dazu, dass Sie sich selbständig gemacht haben?

Anette H. Borhani: Das war eigentlich nicht mein Plan. Es hat sich aus der Situation heraus so entwickelt. Ich war mit meinem Beruf in vielen sehr unterschiedlichen Einrichtungen tätig und konnte so meine Erfahrungen sammeln. Nicht nur hier in Deutschland, sondern auch im Ausland. Als meine letzte Arbeitsstelle geschlossen werden musste, dachte ich über neue Wege nach.

 

In der Gründungsphase sind immer viele bürokratische Sachen zu regeln, Formulare auszufüllen, Anträge zu stellen. Als Gehörlose mussten Sie komplizierte Texte und rechtliche Formulierungen verstehen. Hat Ihnen damals jemand geholfen?

Ich erfuhr damals von einem Seminar für „Existenzgründer“. Das ging mehrere Wochen lang. Es war für mich als Hörgeschädigte nicht einfach daran teil zu nehmen, da das Ganze natürlich nur für „Hörende“ konzipiert war. Es war aber trotzdem sehr spannend. Dort bekam ich sehr viele Unterlagen, Informationen, Anregungen uvm.

Zusammen mit anderen Teilnehmern konnte ich mich viel austauschen, Fragen stellen, und Ideen entwickeln, wie ein Unternehmen funktionieren könnte.

 

Eine eigene Firma zu gründen, ist immer mit hohen Risiken verbunden. Haben Sie keine Angst gehabt, dass es auch schief gehen könnte? Hatten Sie auch einen „Plan B“ gehabt?

Nein, eigentlich nicht. Natürlich ist es nicht immer leicht. Ich dachte, wenn es nicht klappt, dann kann ich ja wieder ins Angestelltenverhältnis zurückgehen. Aber wichtig ist, dass man ein gutes Konzept für die Selbständigkeit hat und man wirklich dran bleibt und arbeitet. Zum Glück hat sich meine Firma sehr gut entwickelt und ich bin jetzt schon seit 10 Jahren dabei!

 

Um erfolgreich zu sein, mussten Sie sich ständig weiterbilden. Sie haben immer wieder Kurse und Seminare besucht, wo Sie als einzige Gehörlose teilnahmen. Hatten Sie immer auch einen Dolmetscher dabei?

Seit ich in meinem Beruf bin, habe ich viele Fortbildungen gemacht. Früher gab es diese Möglichkeit nicht, dass man sich einfach einen Dolmetscher organisiert. Für mich war schon immer ziemlich anstrengend sich durch zu boxen. Ich habe immer mit den Dozenten und anderen Teilnehmern vorher gesprochen und erklärt, dass ich ein Hörproblem habe. Oft hat sich jemand bereit erklärt, für mich mit zu schreiben oder ich bekam extra Skripts, Kopien usw. Die Tischordnung wurde für mich geändert. Es war zwar nie optimal, aber irgendwie hat es doch immer geklappt.

 

In den vergangenen 10 Jahren haben Sie Ihre Angebote ständig erweitert. Sie bieten sehr viele und sehr unterschiedliche Leistungen an, wie z.B. Nordic Walking, Rückenschule, Flexibar, Sportphysiotherapie und Med. Trainingstherapie. Welche von diesen werden von ihren Patienten am meisten in Anspruch genommen?

Egal was ich mache: es hat immer was mit Gesundheit, Prävention oder Rehabilitation zu tun. Ich habe auch nicht nur „Patienten/innen“ sondern auch Kunden/innen, die einfach was für ihr Wohlbefinden tun wollen. Sport und Bewegungen sind immer sehr gefragt. Viele wollen etwas für ihre Fitness und Ausdauer tun. Manche wollen abnehmen. Da bietet sich zum Beispiel Nordic Walking sehr gut an. Es ist ganzheitlich und kann draußen in der Natur durchgeführt werden. Flexibar, Gymstick, Rückenschule oder gezielte med. Trainings-therapie sind ebenso sehr gefragt, aber auch Entspannung ist ein wichtiges Thema. Hier sind Entspannungsübungen, Massagen oder Sauerstoff-Therapie nach Prof. Manfred v. Ardenne sehr gefragt. Hinzu kommt die Besonderheit dass ich mobil bin. Zum Beispiel komme ich auch in Firmen und zu Event Veranstaltungen.

 

Man kann bei Ihnen auch unterschiedliche Massagen buchen. Welche sind dies genau und wofür sind Sie gut?

Das alles aufzuzählen und zu beschreiben wäre jetzt etwas zu viel. Ich habe eine Webseite: www.ah-borhani.de/. Hier sind die Leistungen im Einzelnen aufgezählt und beschrieben. Die klassische Massage kennt, glaube ich, jeder. Manuelle Lymphdrainage ist nicht nur für die Entwässerung des Körpers, gegen Ödeme, sondern auch zur Entschlackung und Entspannung gut. Trigger-Point-Massage, Bindegewebsmassage oder Fußreflexzonen-therapie sind eine Art von Reflexzonentherapie mit unterschiedlichen Techniken, aber sehr effektiv.

 

Bei den Olympischen Spielen in London konnte man sehr viele Sportler mit Tapes (Heilpflastern) am Körper sehen. Es scheint ja richtig modisch zu sein. Sie bieten ja auch Kinesio-Taping an…...

Tapes sind eigentlich nicht Neues im Sport. Sie wurden schon seit vielen Jahren im Hochleistungssport angewendet. Neu ist eher, dass das Material dehnbarer ist als die alten Tapes und man kann sie in vielen Farben kaufen. Somit sind sie auch auffälliger geworden. Aber sie machen wirklich Sinn und helfen dem Sportler beim Sport oder im Alltag.

Die Kinesio-Tapes (so heißen sie richtig), haben eine positive Wirkung für den Heilungsprozess. Sie stabilisieren die verletzte Stelle am Körper. Die Tapes unterstützen auch die Muskulatur bei der Bewegung oder reduzieren den Schmerz. Man kann sie aber sehr schlecht allein am Körper anbringen. Man braucht wirklich einen erfahrenen Sportphysiotherapeuten mit entsprechenden anatomischen Kenntnissen. Denn es gibt unterschiedliche Techniken die man kennen muss.

 

Für jede Selbständige ist es wichtig Kunden zu finden. Woher kommen Ihre Kunden? Wie werden sie auf Sie aufmerksam?

Mundpropaganda ist die beste Werbung! Ich habe eine Webseite (www.ah-borhani.de) und so bekomme ich auch über das Internet neue Kunden. Außerdem arbeite ich zweimal in der Woche freiberuflich in einer Praxis für Physiotherapie.

Ich lege sehr viel Wert auf Kundenpflege, weil es wichtig ist. So schreibe ich die Kunden z.B. an, um den Kontakt aufrecht zu erhalten oder über Neuigkeiten zu informieren. Vor kurzem habe ich anlässlich des 10-jährigen Firmenjubiläums wieder an alle Kunden geschrieben.

 

Wer sind Ihre Kunden? Hörgeschädigte, Hörende?

Meistens sind es Hörende. Aber ich habe auch schon öfters Nordic Walking Kurse speziell für Hörgeschädigte bundesweit gemacht, oder Workshops auch für Hörgeschädigte durchgeführt wie z. B. Entspannung und Hilfe zur Selbstmassage am Arbeitsplatz.

 

Wie klappt die Kommunikation (Terminvereinbarung) mit hörenden Kunden und Patienten?

Dank moderner Technik ist heute vieles leichter geworden. Unsere Kommunikation läuft über E-Mail, Blackberry oder SMS, telefonieren tue ich nicht.

 

Sie kommen aus einer hörenden Familie und können nicht nur die deutsche Sprache von den Lippen ablesen…...

Ja, in meiner Familie wurde nicht nur Deutsch gesprochen, sondern auch Arabisch und Französisch. Aber am häufigsten wurde Deutsch gesprochen, das war für uns alle leichter. Ich habe schon früh gelernt, die unterschiedlichen Sprachen von den Lippen ab zu lesen. Jede Sprache hat oft ihre eigene Gestik und Mimik. Das ist schon sehr interessant zu sehen, wie Sprache Menschen formen kann.

 

Man kann Sie auch als Personal Trainerin buchen. Was bieten Sie konkret an? Wie lange geht so ein Training?

Das Besondere beim Personal Training ist die 1-zu-1-Betreuung. Das ist ein ganz gezieltes Training nur mit einem Kunden. Die Sportart und das Ziel bespreche ich mit dem Kunden. Wir erstellen dann gemeinsam einen Plan und den wollen wir umsetzen. Ich begleite den Kunden praktisch zu seinem Ziel und hierfür trainieren wir meistens eine Stunde am Tag.

Die Länge bei einem Personal-Training ist sehr unterschiedlich. Meistens kaufen die Kunden eine 10-er Karte oder ich biete ihnen ein „Paket“ an. Viele Kunden buchen einmal wöchentlich Personal-Training. Dann fahre ich zu den Kunden, zu ihrem Arbeitsplatz oder zu ihnen nach Hause.

 

Es gibt in Deutschland kaum gehörlose Physiotherapeuten. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Es gibt keine speziellen Fachschulen für Gehörlose oder Schwerhörige. Es ist mühsam allein in einer „hörenden Welt“ dem Unterricht zu folgen. Das schreckt viele ab!

 

Sie sind sehr energisch und haben eine selbstbewusste, positive Ausstrahlung. Das schaffen nicht alle gehörlosen Frauen, was raten Sie Ihnen?

Sich selbst mehr zutrauen und offen sein! Man sollte immer schauen, was geht, statt alles aufzuzählen, was nicht geht! Viele Hörgeschädigte glauben, dass vieles nicht geht, weil sie nicht hören können oder nicht so gut sprechen können. Sie sehen nicht, dass viele „Hörende“ auch nicht alles können, obwohl sie „hören“. Man sollte sich selber Gedanken machen, was man kann und will.

 

Worauf sollten Gehörlose bei einer Unternehmensgründung achten? Was Sind Ihre Empfehlungen?

Ein klares Konzept für das Unternehmen erstellen. An einem Seminar für Existenzgründer teilnehmen. Sich gut informieren über Versicherung, Unternehmensformen, die Marktlage genau untersuchen und beobachten. Eigentlich muss ein Gehörloser genau das machen, was alle Hörenden auch machen müssen. Das Einzige worauf Gehörlose mehr achten müssen ist, ob sie wirklich alles verstanden haben. Also, sie müssen mehr nachfragen und dafür sorgen, dass sie eine Antwort bekommen, die sie auch verstehen. „Wer nicht fragt, bleibt dumm“.

 

Sie engagieren sich auch in der gehörlosen Gemeinschaft, schreiben Blogs und kämpfen für die Untertitelung. Wenn Sie drei Wünsche hätten, was würden Sie ändern?

1. Untertitel in allen Programmen, auch im Kino, und zwar korrekt und unzensiert.

2. Dass die Gebärdensprache in unserer Gesellschaft selbstverständlich wird.

3. Bessere Bildungsmöglichkeiten schaffen für Hörgeschädigte.

 

 

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg für Sie als Unternehmerin!

Text: Judit Nothdurft

Foto: Katharina Fischer

 

 
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