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Experten-Interview Januar 2013



Sexuelle Aufklärung ist wichtig, um sexuelle Gewalt zu verhindern

 

Dr. Anja Dietzel befasst sich seit Jahren mit dem Thema, wie wir unsere Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen können, und hält Vorträge in Deutscher Gebärdensprache.

 

Judit Nothdurft: Was versteht man eigentlich unter sexueller Gewalt?

Dr. Anja Dietzel: Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Man kann nicht sagen, diese Handlungen gehören zu sexueller Gewalt und die anderen Handlungen sind ok. Aber es gibt zwei wichtige Regeln: Wenn jemand im Bereich Sexualität etwas mit mir macht, was ich nicht will, dann ist es sexuelle Gewalt. Also zum Beispiel mich anfasst, obwohl ich das nicht will, mich küsst, obwohl ich das nicht will, oder mich zwingt, mich nackt zu zeigen, obwohl ich das nicht will.

Es ist aber auch sexuelle Gewalt, wenn jemand im Bereich Sexualität etwas mit mir macht, wogegen ich mich nicht wehren kann. Zum Beispiel, weil ich viel zu jung bin, um das zu begreifen, oder weil ich geistig behindert bin. Oder ich bin abhängig von dieser Person und traue mich nicht, zu wehren. Auch das ist sexuelle Gewalt!

 

Werden hörgeschädigte Kinder öfter Opfer von sexuellen Überfällen als hörende? Gibt es hierzu Statistiken?

Ja, leider liegen die Zahlen für hörgeschädigte Mädchen und Jungen viel höher. Die neueste Statistik aus Norwegen zeigt folgendes:

 

          45,8 % der gehörlosen Mädchen

          42,4 % der gehörlosen Jungen

 

jedoch im Vergleich dazu

 

          17 % der nicht behinderten Mädchen

          8 % der nicht behinderten Jungen

 

werden Opfer sexueller Gewalt (Kwam, 2004).

 

Auch die im November 2011 veröffentlichte Studie vom Bundesfamilienministerium, die die Situation behinderter Frauen untersucht hat, bestätigt diese hohen Zahlen (BMFSFJ 2011). Da die Opferzahlen auch bei Kindern mit anderen Behinderungen stark erhöht sind, hat das nichts mit der Hörschädigung, sondern mit den Lebensbedingungen der Kinder zu tun.

Damit meine ich, dass hörgeschädigte und andere Kinder wenig zu selbstbewussten und selbständigen Kindern erzogen werden. Diese Abhängigkeit führt dazu, dass sie sich nicht widersetzen können und durch das schlechte Selbstbewusstsein auch den Mut dazu nicht haben. Gerade bei hörgeschädigten Jugendlichen fällt mir auf, dass sie es normal finden, eine schlechte, schlimme oder ungute Situation auszuhalten.

 

Wo endet Freundschaft und beginnt Sexualität? Gefühle zu erkennen - wie kann man ein Kind darauf vorbereiten?

Wo Sexualität beginnt? Das ist individuell und situativ sehr verschieden. Es kommt mir jedoch nicht darauf an, dass Kinder wissen, wo Freundschaft endet und Sex anfängt. Viel wichtiger ist für mich, dass jedes Kind seine eigenen Gefühle wahrnimmt, kennen lernt, benennen und ausdrücken kann. Dies gilt besonders für hörgeschädigte Kinder. Durch ihre besondere sprachliche Situation können sie oft nur eine ganz kleine Gefühlspalette benennen (nur wenige unterschiedliche Gefühle), obwohl sie natürlich über genau dieselben Gefühle verfügen wie andere Kinder. Wie kommt das? Wächst ein Kind in einer Umgebung auf, die nicht richtig mit ihm kommunizieren kann, dann versuchen die Erwachsenen, Gefühle anhand von Gegenteilen zu erklären, zum Beispiel lieb – böse. Bei diesen Gegensatzpaaren bleibt es leider oft bin ins Erwachsenenalter.

 

Wenn ein Kind gegen seinen Willen geküsst oder gestreichelt wurde, ist das dann schon sexuelle Gewalt? Wo zieht man die Grenze?

Ja natürlich, das ist ein Übergriff! Wir möchten doch auch nicht gegen unseren Willen geküsst oder gestreichelt werden! Es ist wichtig die Kinder zu ermutigen, NEIN zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Und als Erwachsene mich immer wieder zu überprüfen, ob das Kind meine Handlung, wie zum Beispiel auf den Schoß nehmen, wirklich will.

 

Oft sind die Täter keine fremden Personen, sondern kommen aus der Familie oder es handelt sich um Freunde der Familie. Diese Fälle werden oft gar nicht aufgedeckt, weil die Opfer sich nicht trauen jemandem über die Tat zu erzählen…

Es ist richtig, dass bei nicht behinderten Kindern die Täter oft aus der Familie oder aus dem Bekanntenkreis kommen. Bei hörgeschädigten Kindern ist es allerdings anders! Die meisten Täter von hörgeschädigten Kindern haben irgendetwas mit der Behinderung des Kindes zu tun, sie sind zum Beispiel Mitschüler, Mitbewohner im Internat, gehören zum Personal oder zum Fahrdienst usw.

 

Ist eine Prävention (=Vorbeugung) möglich? Wenn ja, wie sollte sie aussehen? Was kann die Gesellschaft tun?

Ja, natürlich ist es möglich, hörgeschädigte Kinder besser zu schützen. Und es ist eigentlich auch gar nicht schwer, wenn man sich an 3 Punkte hält:

1. Das Selbstbewusstsein des Kindes fördern. Ein Kind, das selbstbewusst NEIN sagt, wenn ihm etwas nicht gefällt, läuft nicht so schnell Gefahr, Opfer von Übergriffen zu werden.

Wie mache ich das? Auch das ist nicht schwer. Das Selbstbewusstsein wächst mit Aufgaben. Wenn ich dem Kind also Sachen zutraue, es Sachen alleine mache lasse, das Kind auch mal einen Misserfolg machen lasse, (nicht, wie so oft bei hörgeschädigten Kindern, in Watte packe), dann wird dies ein selbstbewusstes Kind.

2. Dem Kind eine Sprache geben. Ich möchte hier nicht in eine Diskussion pro oder kontra Gebärde verfallen. Ich fordere allerdings, dass jedes Kind eine Sprache erhält, mit der es alles ausdrücken kann. Wieso ist es im Jahr 2012 immer noch so, dass hörgeschädigte Jugendliche die Schule verlassen und einen Wortschatz haben, der mit einem Schulanfänger vergleichbar ist?! Wenn ich als Kind keine Sprache habe, wie soll ich dann berichten, was mir passiert ist?!

3. Das Kind sexuell aufklären. Zu sexueller Aufklärung gehören nicht nur die rein biologischen Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, sondern auch die Themen Gefühle und Körperrechte. Hörgeschädigte Kinder und Jugendliche wissen oft einfach nicht, dass sie NEIN sagen dürfen, dass sie über ihren Körper selbst bestimmen dürfen.

Wenn wir alle, die mit hörgeschädigten Kindern zu tun haben, uns an diese 3 Punkte halten, dann machen wir es den Tätern unendlich schwer.

 

Wie können Eltern das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken, damit sie sich trauen NEIN zu sagen?

Wie ich bereits gesagt habe, dem Kind ruhig mal etwas zutrauen, ihm Aufgaben und Verantwortung geben, das Kind Sachen alleine machen lassen, wie hörende Kinder es auch machen, z.B. Bus oder Bahn alleine fahren lernen, alleine einkaufen gehen usw. Mit jedem Erfolg wächst das Selbstbewusstsein des Kindes. Das Kind lernt dabei auch, Strategien zu entwickeln, wenn etwas mal schwierig wird, denn es hat ja vorher erlebt „Ich kann das!“

 

Viele gehörlose Kinder müssen oft weite Schulwege in Kauf nehmen und sind daher in Internaten untergebracht. Wie können Eltern ihre Kinder dort vor sexuellen Übergriffen schützen?

Als Mutter oder Vater wäre es mir wichtig, dass das Internat sich mit dem Thema sexuelle Gewalt auseinandersetzt. Ich würde darauf bestehen, dass ich sofort informiert werde, wenn etwas passiert. Ich würde mich vor allen Dingen dafür einsetzen, dass das Internat eine Art Notfallplan (wird oft Leitlinie genannt) hat. Wenn etwas passiert, dann weiß jeder im Internat, was zu tun ist. Es geht jedoch nicht, dass ich nur vom Internat alles fordere. Ich muss als Mutter oder Vater auch mithelfen, z.B. zu Elternabenden gehen. Es ist sehr auffällig, dass zu Elterngesprächen oder –abenden nur ganz, ganz wenige Eltern kommen. Es ist doch MEIN Kind, ich kann doch die Verantwortung nicht ganz abgeben!

 

Sexueller Missbrauch hinterlässt Spuren. Wo können sich betroffene Gehörlose beraten und therapieren lassen?

Ja, das ist in Deutschland leider noch ein großes Problem. Kinder und Jugendliche brauchen eigentlich eine ambulante Therapie. Nur mit einer Therapie können sie verarbeiten, was geschehen ist. Leider gibt es in Deutschland nur ganz, ganz wenige TherapeutInnen, die mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen arbeiten können.

Es bestehen daher 3 Möglichkeiten:

  1. Therapie mit Dolmetscher (das passt nicht für alle Kinder).
  2. Eine körperorientierte Therapie, bei der es nicht auf Sprache ankommt.
  3. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Uchtspringe bei Magdeburg. Die Ärzte und Schwestern dort können gebärden, die Therapie findet in Gebärdensprache statt.

 

Sie halten seit Jahren Vorträge und Workshops für Schulen und Internate und beraten Hilfesuchende in Ihrer Praxis. Jetzt kommt was Neues: Sexualpädagogische Weiterbildung für Mitarbeiter/innen im Hörgeschädigtenbereich….

Ja, ich bin sehr glücklich und stolz darauf, dass wir jetzt im Januar 2013 mit der ersten Weiterbildungsgruppe anfangen können. Ich freue mich auch sehr, dass ich es in Kooperation mit Sinneswandel Berlin machen darf. Wie schon gesagt, sexuelle Aufklärung ist ein ganz wesentlicher Teil, um sexuelle Gewalt zu verhindern. Und ich freue mich, dass so viele MitarbeiterInnen aus Internaten oder Wohngruppen oder aus der Beratung sich dafür interessieren und ihre sexualpädagogischen Kenntnisse verbessern wollen. Wir haben die Weiterbildung speziell auf die Situation hörgeschädigter Menschen zugeschnitten, die DozentInnen kommen fast alle aus dem Hörgeschädigtenbereich. Wir haben sogar eine Gebärdensprachdozentin, die in jedem Modul einen kleinen Gebärdensprachkurs zu dem entsprechenden Thema gibt.

 

Vielen Dank für die wertvollen Tipps und wünsche Ihnen viel Erfolg!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Dr. Anja Dietzel

 

 
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