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Experten-Interview August 2014



Als gehörloser Erzieher in einem Kindergarten für Hörende

 

Ein schönes Beispiel für eine gelungene Inklusion - wie einfach es klappen kann, erfahren wir von dem gehörlosen Thomas Gold und seinen hörenden Kolleginnen, Simone Blum-Marzina, Martina Wahls und Angela Becker

 

Thomas, Sie arbeiten seit zwei Jahren im katholischen Kindergarten St. Laurentius in Frankfurt. Einen männlichen Erzieher sieht man nicht jeden Tag im Kindergarten und noch dazu gehörlos.

Wie kamen Sie zu diesem Job?

Nach drei Jahren Ausbildung zum Erzieher habe ich verschiedene Praktika gemacht und eine Stelle gesucht. Gleichzeitig suchte die Einrichtung der Pfarrei St. Laurentius dringend Erzieher(innen). Die Welt ist klein: Ich wohnte damals ganz in der Nähe. Über Christian Enke, der damals in Frankfurt (Kalbach) Pfarrer war und nun Gehörlosenpfarrer ist, kam es zu einem Vorstellungsgespräch und ich durfte drei Tage hospitieren (=zuschauen). Ich erinnere mich noch an die Ungeduld von Frau Wahls, ob ich zusagen würde; aber ich musste erst mal nach Rendsburg zur Abschlussprüfung.

Martina Wahls: Ich war so froh, dass Thomas zugesagt hat! Es gab Gespräche im Verwaltungsrat und mit dem Team der Kindertagesstätte. Grundsätzlich sagten alle gleich JA! Von Anfang an gab es eine positive Stimmung, aber natürlich auch mit etwas Unsicherheit. Es lag weniger am sympathischen Thomas, eher an der Tatsache, dass wir uns alle nicht vorstellen konnten, ob und wie das gelingen wird.

 

Wie war die Reaktion der Kinder?

Angela Becker: Völlig positiv! Klar waren die Kinder erst mal neugierig. Wir hatten damals ein entwicklungsverzögertes Kind zur Einzelintegration. Seine Eltern zeigten aber große Offenheit, was wohl daran lag, dass ihr Sohn gleich gut auf Thomas ansprach.

 

Was sagten die Eltern dazu? Gab es Zweifel?

Angela Becker: Alle waren offen und neugierig, z.B. als zum Elternabend ein Gebärdensprachdolmetscher kam.

 

Wie klappt die Kommunikation?

Martina Wahls: Wir haben einmal in der Woche eine Teamsitzung, außerdem Elternabende, Fortbildungen und Personalgespräche, mit Gebärdensprachdolmetscher. Er kommt normalerweise 18 Stunden im Monat. Außerdem hilft ein schriftliches Protokoll der Teamsitzungen.

 

Gibt es einen festen Tagesablauf?

Angela Becker: Die Struktur ist klar (z.B. Stuhlkreis, Essen, …), aber wir besprechen extra im Team, was, wann, wer machen will.

 

Wie viele Kinder sind in der Gruppe? Und wie klappt da die Kommunikation?

Simone Blum-Marzina: Zwanzig. Am Anfang waren die Kinder irritiert, weil die Stimme von Thomas für sie seltsam klang. Sie mussten sich erst daran gewöhnen, um ihn gut zu verstehen. Klar kamen da viele Fragen auf und Thomas erklärte ihnen, dass er gehörlos geboren wurde und seine Stimme nicht kontrollieren kann, wie sie. Er kann sich ja selbst nicht hören.

 

Daraus entwickelte sich ein tolles Projekt, in dem die Kinder herausfanden, wie sie mit hörgeschädigten Menschen kommunizieren können, mit Mimik und Gestik statt Worten. Wir haben auch einen Ausflug zum Hörgeräteakustiker unternommen und Hörexperimente gemacht. Mit einer sympathischen Handpuppe, die ein Hörgerät trägt, sind wir kindgerecht miteinander ins Gespräch gekommen. Die Kinder wollten etwa wissen, wie Thomas morgens wach wird. Da hat er ihnen einen Lichtwecker gezeigt. Am Ende stand eine Ausstellung, und gerade die Eltern haben uns tolle Feedbacks gegeben, z.B.: „Ihr zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, alle Sinne gebrauchen zu können“.

Angela Becker: Die Kinder haben riesiges Interesse an der Gebärdensprache. Sie sind unkompliziert und sprechen Thomas einfach an.

 

Thomas Gold: Manchmal helfen dann die Kolleginnen beim Verstehen in einer Art „Mischung“ von Händen, Füßen und Pantomime, oder sie schreiben auch mal was auf. Irgendwie klappt‘s immer!

 

Erzählen Sie den Kindern auch Märchen?

Thomas Gold: Im Projekt haben wir die Geschichte „Einer für alle, alle für einen“ gleichzeitig gebärdet und vorgelesen.

 

Simone Blum-Marzina: Das war zwar anstrengend, aber die Übung lohnte sich, weil wir den Kindern die Gleichberechtigung von Laut- und Gebärdensprache zeigten. Immer wieder gibt’s auch mal spontan einen kleinen Gebärdenkurs, wie z.B. die Vokabeln von Farben und Tieren. Thomas hat unseren Kindern das Vaterunser in Deutscher Gebärdensprache gezeigt. Wir haben mit den Kindern auch in einem Bilderbuch den Tageablauf von einem gleichaltrigen gehörlosen Jungen angeschaut und dabei die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede kennengelernt.

 

Was können die Kinder schon gebärden?

Simone Blum-Marzina: Die Farben, den eigenen Namen im Fingeralphabet, „Guten Appetit“ und „schönes Wochenende“ und zwar alle Gruppen der Einrichtung! Außerdem unterrichtet Thomas uns Kollegen bereits im zweiten Jahr in der Gebärdensprache.

 

Gibt es Lieblingsgebärden von den Kindern?

Martina Wahls: Neulich machten wir eine Nachtwanderung, bei der ich Thomas spontan fragte: „Wie gebärdet man denn ‚warten‘?“ Die Kinder waren wieder mal fasziniert und benutzen die Gebärde jetzt öfter.

Thomas Gold: Farben finden die Kinder interessant und Tiere.

 

Schlichten Sie auch Streit zwischen den Kindern?

Thomas Gold: Weil die Kinder in solchen Situationen natürlich besonders aufgeregt sind, kommen die Kolleginnen zum Klären.

Angela Becker: Ich mache Thomas aber Mut selbst hinzugehen, damit die Kinder sehen, dass wir beide Erzieher sind. Wenn es Probleme gibt, dann helfe ich ihm natürlich.

 

Was macht Ihnen besonders Freude bei der Arbeit?

Thomas Gold: Besonders schön finde ich bei meiner Arbeit mit hörenden Kindern, dass sie mit hörgeschädigten Menschen normal umgehen können. Wir haben Verständnis füreinander und das Stichwort „Horizont-Erweiterung“ klappt. Neulich hat ein Kind uns erzählt, dass sein Opa ein Cochlea Implantat bekommen hat, bei einem anderen Kind hat die Schwester Hörgeräte bekommen. Für solche Sachen haben die Kinder hier bereits volles Verständnis.

 

Haben Sie Tipps für Eltern hörgeschädigter Kinder?

Thomas Gold: Ich hätte zwei Hinweise. Erstens ist es nicht ausschlaggebend, ob Ihr Kind hörend oder gehörlos ist! Zweitens, gebärden Sie mit Ihrem Kind und lassen Sie es alles möglichst normal mitmachen!

 

Text: Christian Enke / Judit Nothdurft

Foto: Kindergarten St. Laurentius

 
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