preload preload preload
Seit 2010 für
Inklusion und Barrierefreiheit
logobanner
JNC Deafservice
Bayern barriererfrei

  Experteninterviews
 2024
 2023
 2022
 2021
 2020
 2019
 2018
 2017
 2016
 2015
 2014
 2013
 2012
 2011
 2010

 

 

Experten-Interview November 2010



Judith Göller - Mein Ehrgeiz zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben...

 

…..Interview mit Judith Göller, die im Video „Hopefully“ eine der Hauptrollen spielte.

 

Judit Nothdurft: Viele kennen Sie als Schauspielerin, Bloggerin, Lippenleserin, Untertitelaktivistin, aber wer sind Sie eigentlich privat?

Judith Göller: Was Sie über mich so alles aufgelistet haben, hat mir meine Vielseitigkeit erst so richtig bewusst gemacht. Ich muss darüber schmunzeln, denn ich hätte noch einiges zu erwähnen. Im Internet halte ich mich normalerweise bedeckt, wenn es um meine private Seite geht. Aber hier verrate ich gerne etwas über mich.

Ich bin vollzeitbeschäftigt im Öffentlichen Dienst und alleinerziehende Mutter von zwei hörenden Kindern. Ich bin privat immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen, die ich dann mit Freude anpacke.

Ich lebe, um mich prozentual auszudrücken, 80 % in der hörenden Welt und 20 % in der hörgeschädigten Welt. Von den Hörenden hole ich mir viele Impulse und gebe diese gerne weiter.

Viele haben von mir wohl den Eindruck, dass ich rund um die Uhr am Schaffen bzw. im Internet bin. Das stimmt natürlich nicht. Meine besten Ideen kommen mir meistens beim Einkaufen, Saubermachen, in Gesprächen, bei Beobachtungen, beim Lesen oder beim Baden. Mein Gehörlosblog (http://www.gehoerlosblog.de/) war auch so eine „Badewanne“-Idee. Mittlerweile führe ich dieses Blog seit viereinhalb Jahren und habe immer noch viel Freude daran.

Ich habe mir angewöhnt, dass ich immer einen kleinen Block und Stift in meiner Nähe habe, um meine Einfälle aufzuschreiben und festzuhalten. Hinzu kommt, dass ich meinen Ehrgeiz habe, immer nur mein Bestes zu geben und mich ständig weiterzubilden. Es vergeht bei mir kein Tag ohne Lesestoff!

 

Wie ist das Video für die Uni für Gehörlose entstanden? Wer hat die Idee gehabt?

Das Video „Hopefully“ ist die alleinige Idee vom schwerhörigen Regisseur Christopher Buhr. Wir haben uns zuvor über dieses Thema mit der Gebärdensprach-Uni in Bad Kreuznach ausgetauscht. Dann trafen wir uns alle bei mir in Speyer und fuhren zu den Drehorten Heidelberg, Haßloch und Bad Kreuznach, um so viele Möglichkeiten abzuschöpfen wie möglich.

 

Ihr habt also an Originalschauplätzen gedreht. Wie waren die Dreharbeiten?

Die Regie führte Christopher Buhr und gab uns während der Dreharbeiten einfühlsame und genaue Anweisungen, denen wir folgen sollten. Da er selbst auch als Schauspieler arbeitet, kann er seine Erfahrungen sehr gut rüberbringen, so dass man als Darsteller seine Freude hat, sich in die Rolle hineinzuversetzen. Wir konnten zwar nicht alle Möglichkeiten an Originalschauplätzen umsetzen, jedoch war Christopher Buhr flexibel und hatte immer einen Plan B zur Hand.

 

Darf ich fragen, wie der Film finanziert wurde?

Ja, das dürfen Sie fragen. Christopher Buhr hat den Film (und seine Fahrtkosten) aus der eigenen Tasche finanziert. Wir Darsteller spendeten gern unsere Freizeit. Wir wollten alle mit unserem Video, sozusagen als Film-Spende, das Projekt Gebärdensprach-Uni in Bad Kreuznach unterstützen.

 

Eure „Film-Spende“ für die Uni in Bad Kreuznach hat bis jetzt mehr als 1000 Aufrufe auf YouTube gehabt. Wie sind die Zuschauerreaktionen?

In Facebook trudelten die positiven Zuschauerreaktionen herein und die Facebook-Freunde, darunter Dr. Ingo Barth, DGB-Vize-Präsidentin Christine Linnartz, Organisator Patrick Ohitekah, bedankten sich sehr für dieses Video und leiteten diese auch an ihre Freundeskreise weiter.

 

Habt ihr mit dem Video etwas bewirken können, spenden die Leute jetzt mehr für die Uni?

Es gab bei den Spenden einen sprunghaften Anstieg seit der Veröffentlichung des Kurzfilmes.

 

Neben Ihrem Job und der Schauspielerei arbeiten Sie auch als Lippenleserin. Woher haben Sie diese Begabung? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass Sie aus einer hörenden Familie kommen?

Ja, es hängt damit zusammen, dass ich nur hörende Verwandtschaft habe. Ich habe zwei ebenfalls hörgeschädigte Schwestern und einen hörenden Bruder. Ich bin die Älteste und meine Mutter hat mich schon von Beginn an sehr gut gefördert, als meine Gehörlosigkeit festgestellt wurde. Sie bekam Hilfe und Anregungen von einem Lehrer der Schule für Hör- und Sprachbehinderte in Frankenthal. Dieser sagte ihr, dass ich als Gehörlose am besten über Schrift an die Sprache herankomme. So brachte mir meine Mutter das Lesen und Schreiben mit 2½ Jahren bei. Durch Vorlesen und viele Diktate schreiben entwickelte ich meine Begabung zum Lippenlesen. Je größer mein Wortschatz wurde, umso besser wurde ich im Lippenlesen.

Hinzu kommt mein Ehrgeiz, der sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben zieht.

 

Welche Aufträge bekommt man als Lippenleserin?

Die Bandbreite ist enorm: Für Filme, bei denen Bild und Ton getrennt aufgenommen werden oder Stummfilme, wie eben diese privaten Eva-Braun-Filme bei ZDF-History.

 

Lippendolmetschen bei hörenden Patienten mit Luftröhrenschnitt. Diese können zwar sprechen, jedoch aufgrund des Luftröhrenschnitts ohne Stimme und die hörenden Verwandten wollen diese unbedingt verstehen mit Hilfe des Lippenlesers. Ich suche hier immer sehr gute Lippenleser, die der Lautsprache kundig sind, da hauptsächlich mit Hörenden kommuniziert wird, in ganz Deutschland für meine Lippendolmetscher-Agentur.  Als Lippendolmetscher braucht man keine Gebärdensprache zu beherrschen, jedoch die Lautsprache. Hier vermittelt man als hörgeschädigter Lippenleser/Lippendolmetscher zwischen Hörenden!

 

Es gibt dann noch Aufträge von der Polizei, Anwälten und Kriminalpolizei, diese stehen unter Schweigepflicht.

 

Und Fußball natürlich auch…

 

Mein verrücktestes Erlebnis war der Auftrag von einem Musik-Studenten, der mich bat, in seinem rückwärts laufenden Musikvideo vom rückwärts sprechendem Sänger vorwärts abzulesen, um so zu den Mundbewegungen die passenden Worte zuzuordnen, damit er für die vorwärts laufende Musik mit meinen improvisiert abgelesenen Wörtern komponieren konnte.

 

Es ist alles möglich, vorausgesetzt, das Mundbild ist klar, deutlich und gut sichtbar zu sehen. Ist das Mundbild schlecht zu sehen, verzerrt, verschwommen, mit Bart, verdeckt, zu dunkel usw., dann sind die Grenzen leider schnell erreicht. Es gibt viele Faktoren zu berücksichtigen, die für Hörende nicht sichtbar sind.

 

Wie kam es, dass Sie für die Eva-Braun-Filme vom ZDF eingeladen worden sind?

Die ZDF-Mitarbeiterin recherchierte im Internet nach Lippenlesern und stieß auf mein Gehörlosblog bzw. Lippendolmetscher-Blog. Durch ihre Anfrage kam der Kontakt und somit der Auftrag zustande. Dieser Auftrag war eine richtige Herausforderung, da Adolf Hitler  wegen seines schwarzen Bärtchens ein schlechtes Mundbild hatte. Ich habe mir einige der für das ZDF wichtigsten Szenen x-mal wiederholt angesehen, bis ich die Worte identifizieren konnte. Leider war die Ausbeute nicht so groß, aber die Qualität ist wichtig. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann verstehe ich es auch nicht. Ich lege keine vermuteten Zusammenhänge in den Mund, sondern nur das, was ich 100%ig verstanden habe.

 

Wie war dabei die Arbeit mit den gehörlosen und den hörenden Profis im Studio?

Bei den Dreharbeiten im Studio, wurden die zwei anderen Lippenleser und ich getrennt aufgenommen. Ich zeigte, wie ich so arbeite (zu Hause) und ich folgte den Anweisungen des Kameramannes für bestimmte Perspektiv-Aufnahmen für den Dokumentarfilm über Eva Braun.

 

Sie engagieren sich sehr für die Probleme der gehörlosen Gesellschaft, wie z. B. für die Uni. Bei der Untertitelaktion sind Sie auch aktiv. Ich habe das Gefühl, Sie gehören zu den Menschen, die nicht nur über die Probleme klagen wollen, sondern sie lieber anpacken ……

mein Gott, es ist so langweilig, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, bis es jemand anpackt! Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann bleibe ich dran wie der Superklebstoff.

 

Was die www.aktion-untertitel.de betrifft, diese mache ich, zusammen mit meinen Teamkollegen Fabio Del Tufo und Matthias Fimmel, aus gemeinnützigen Gründen, die der hörgeschädigten Gesellschaft zugute kommt. (Fast) alle Hörgeschädigten haben das gleiche Bedürfnis, Filme, Sendungen, Dokumentationen, was eben in den eigenen Interessen-Bereich fällt, mit Untertiteln zu sehen und zu verstehen.

 

Dieser Mangel an Untertiteln in Deutschland ist einfach zu beschämend. Die jetzige Versorgung mit Untertiteln beläuft sich auf ca. 11-12%. Inzwischen arbeiten einige Unternehmen daran, eine automatische und vollwertigere Untertitel-Versorgung zu entwickeln. Wir wollen mit den Spenden diese unterstützen und vorantreiben. Auch wenn es einige Jahre dauern wird, lohnt sich es. Die Bildung geht für hörgeschädigte Menschen am besten per Lesen der Schriftsprache. Wir investieren mit den Spenden in die Hörgeschädigten und Hörenden, die mittels Technik und Spezial-Programmierung die bessere Untertitelung in der Medien-Branche anbieten können.

 

Kurz zusammengefasst: Ich sehe, dass alles möglich ist, und deshalb packe ich mit an, bei Herausforderungen, die mich schon immer gereizt haben.

 

Es gibt noch viel zu verbessern für gehörlose Menschen. Wenn Sie es könnten, was würden Sie auf jeden Fall ändern?

Ich würde jeden Gehörlosen auffordern: LIES ein interessantes Buch! Ich sage dies auch meinen gehörlosen Freunden, immer wieder. Wenn nur zwei oder drei davon dies umsetzen, ist es für mich ein Erfolg!

Die Gebärdensprache ist ein leichtes und schnelles Kommunikationsmittel zwischen den gehörlosen Menschen. Aber zum Vergrößern des eigenen Wortschatzes kommt kein Gehörloser am Lesen vorbei.

Ich appelliere an jeden Gehörlosen: Werdet vielseitig, übt die Lautsprache, werdet unabhängiger! Wir können uns immer mal wieder zurückziehen und uns mit eigenen Schicksalsgenossen austauschen. Dazu haben wir unsere vielen Selbsthilfegruppen/Vereine/Verbände. Diese haben in erster Linie die Aufgabe zu erfüllen, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, sowie ständige Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.

 

Was ist Ihr nächstes Projekt? Womit überraschen Sie uns demnächst?

Ich werde meinen Bauchtanz-Hüftschwung im nächsten Filmprojekt für die Aktion Untertitel zeigen, lasst euch überraschen...

 

Also dann warten wir gespannt darauf und bedanke ich mich für das Interview!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Judith Göller

 
Anzeige
Tess Relay Dienste

Anzeige
Telesign

Anzeige
Humantechnik

Anzeige
Judit Nothdurft Consulting


 
Impressum etc.