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Experten-Interview Mai 2011



Achtung beim Erwerb eines Hörgerätes!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

OLG Hamm: Verletzung eines Beratungsvertrages beim Kauf eines Hörgerätes

1.       Klärt der Verkäufer eines Hörgerätes seinen Kunden anlässlich eines ersten Besuches in einem Hörgeräte-Akustik-Betrieb nicht darüber auf, dass er einen Erstattungsanspruch gegen seine Krankenkasse nur nach vorheriger Deckungszusage habe, so handelt es sich um eine schuldhafte Verletzung des Beratungsvertrages. Der Anspruch auf den Kaufpreis ist nicht durchsetzbar, da ihm ein Schadensersatzanspruch in gleicher Höhe entgegensteht.

2.       Auch bei Bejahung der Verletzung einer unselbstständigen Beratungspflicht des Verkäufers, steht dem Käufer als Schadensersatz ein Rücktrittsrecht zu.

 

Zu diesem Urteil vom Oberlandgericht Hamm habe ich Herrn Rechtsanwalt Melzer, Fachanwalt für Medizinrecht und Sozialrecht, befragt.

 

Judit Nothdurft: Herr Melzer, nach dem Urteil (OLG Hamm, Urteil vom 19.02.2010, 19 U 106/09, I-19 U 106/09) muss der Akustiker auch über die Kostenübernahme richtig beraten. Was heißt es genau?

Marc O. Melzer: In dem Fall vom OLG Hamm hat der Akustiker nicht auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Kosten der Hörgeräteversorgung auch die (gesetzlichen) Krankenversicherung hätte übernehmen können. Den Schaden hat der Kunde sodann erfolgreich beim Akustiker eingeklagt. Beim Erwerb eines Hörgerätes ist darauf zu achten, dass ggf. ein Anspruch auf volle Kostenübernahme gegen die gesetzliche (oder die private) Krankenversicherung besteht.

 

Es muss also erst ein Antrag auf Kostenübernahme gestellt werden?

Ja, und das Gerät darf erst nach Entscheidung der Krankenkasse über den Antrag auf Kostenübernahme gekauft werden! Also immer den Bescheid abwarten!

 

Haftet der Akustiker, wenn er seinen Kunden über die Möglichkeit der Kostenübernahme nicht vollständig aufgeklärt hatte?

Ja, wenn der Kunde ein Hörgerät kauft, ohne die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten, weil er über diese Möglichkeit gar nicht informiert wurde, hat er einen Anspruch auf Schadenersatz gegen den Hörgeräteakustiker! In solchen Fällen hat der Kunde wegen Nichteinhaltung des Versorgungsweges keinen Kostenerstattungsanspruch (mehr) gegen seine gesetzliche Krankenversicherung.

 

Wie kann ich als Kunde bei einem Streitfall nachweisen, dass der Akustiker mich nicht aufgeklärt hat? Was empfehlen Sie?

Der Kunde sollte nach Möglichkeit seinen Ehepartner, einen Elternteil oder eine andere Vertrauensperson zum Akustiker mitnehmen. Die Person steht dann als Zeuge zur Verfügung. Ich würde aber auf jeden Fall um eine Kopie des Anpassberichtes bitten. Alles was unterschrieben wird, sollte der Kunde auch mit nach Hause nehmen.

 

Die Akustiker müssen die Kunden auch mit dem ausreichenden Hörgerät versorgen….

Der Akustiker passt nach der Verordnung des HNO-Arztes verschiedene Hörsysteme beim Kunden an. Aufgrund des BIHA-Vertrages (Bundesinnung für Hörgeräteakustiker) ist er verpflichtet, eine ausreichende Versorgung (mit "Kassengeräten") sicherzustellen.

Die gesetzlichen Krankenkassen nehmen derzeit vermehrt Akustiker in Regress, die dieser vertraglicher Verpflichtung angeblich nicht nachgekommen sind.

 

Was ist wenn dem Kunden ein Vertrags- oder Festbetragsgerät nicht ausreicht?

Wenn das Gerät objektiv nicht ausreicht, um die Hörbehinderung auszugleichen, dann hat der Kunde Anspruch auf das Gerät mit dem er/sie das beste Ergebnis erzielt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist da eindeutig. Und die Sozialgerichte halten sich auch daran.

 

Wie reagieren die gesetzlichen Krankenkassen auf Kostenübernahmen?

Die gesetzlichen Krankenkassen verweisen derzeit auf die Verpflichtung der Akustiker aus dem BIHA-Vertrag, um einer Verurteilung im Streit mit dem Versicherten zu entgehen, der die volle Kostenübernahme eingeklagt hat. Allerdings haben bereits mehrere Sozialgerichte entschieden, dass dies Sache der Vertragspartner sei und nicht auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen werden dürfe. Der Anspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse auf die volle Kostenübernahme hat damit also nichts zu tun. Die Kasse muss zahlen und kann sich das Geld evtl. beim Akustiker wiederholen.

 

Und wie sieht es bei den privaten Kassenkassen aus? Zahlen sie ohne Probleme?

Die privaten Krankenversicherungen lehnen in der Regel zunächst ebenso ab wie die gesetzlichen Krankenkassen. Sie argumentieren damit, dass die Versorgung mit hochwertigen Hörgeräten medizinisch nicht notwendig sei und nehmen wegen angeblicher  „Übermaßbehandlung" unberechtigte Kürzungen vor. Hier ist der Fokus auf die vereinbarten Versicherungsbedingungen (MB/KK) und den konkreten Tarif zu lenken. Der Teufel steckt im Detail. Denn gerade bei älteren Verträgen wurde eine Kostenerstattung zu 100% oder eine Versorgung in "einfacher Ausführung" versprochen (nach einem aktuellen Urteil ist die Klausel unwirksam, der Versicherte hat also Anspruch auf die tariflichen Kosten).

 

Von besonderer Bedeutung ist stets, dass dem Versicherer vor Augen geführt werden muss, unter welchen Voraussetzungen die Versorgung tatsächlich medizinisch notwendig ist. Der Privatversicherte hat Anspruch auf Erstattung seiner Kosten, wenn die Versorgung medizinisch vertretbar war. Der Bundesgerichtshof nimmt dies bereits bei ca. 15% Verbesserung an.

 

Wer trägt in solchen Fällen die Anwaltskosten?

Ist der Widerspruch oder die anschließende Klage erfolgreich, dann muss der Verlierer (alles) zahlen. Besteht eine Rechtsschutzversicherung übernimmt diese bei Privatversicherten die kompletten Anwaltskosten, bei gesetzlich Versicherten ist in der Regel erst das Klageverfahren vor dem Sozialgericht versichert, also nicht die Kosten des Widerspruchsverfahrens. Nimmt man den Akustiker in Anspruch und ist rechtsschutzversichert, dann übernimmt diese auch die Kosten des außergerichtliche Verfahrens.

 

Aber auch den Blick in das Kleingedruckte des Rechtsschutzvertrages sollte einem Fachanwalt überlassen werden.

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Marc O. Melzer

 
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