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Experten-Interview November 2022



Nichts hören, nichts sehen - ohne Taubblinden-Assistenz keine Teilhabe am Leben möglich

Menschen, die weder bzw. kaum sehen noch hören können, werden taubblind bzw. hörsehbehindert genannt. Nach dem Deutschen Taubblindenwerk Hannover leben in Deutschland geschätzt ca. 10.000 Hörsehbehinderte oder Taubblinde. Erst seit 2016 ist Taubblindheit als eigenständige Behinderung in Deutschland anerkannt und wird im Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen TBL vermerkt.

 

Hörsehbehinderte und Taubblinde sind auf Taubblinden-Assistenz angewiesen. Über diesen noch viel zu wenig bekannten Beruf habe ich den Vorstand des Taubblinden-Assistenten-Verband e.V. (Sabine Gerlach, Barbara Niese, Lars Neuhaus) interviewt.

 

Was ist die Aufgabe von Taubblinden- Assistenten (TBA)?

TBA-Verband: TBA sichern Menschen mit Taubblindheit mit viel Engagement die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Assistenz für taubblinde Menschen bedeutet, Unterstützung in allen Lebensbereichen unter dem Aspekt der Selbstbestimmung.

 

Wer, wann und wo wird Taublinden-Assistenz gebraucht?

Ein taubblinder Mensch benötigt Assistenz für die Sicherung der Mobilität, Orientierung und Kommunikation und der Einsatz von TBA ist sehr vielfältig. Wir begleiten die TBL bei vielen alltäglichen Angelegenheiten, zu Arztbesuchen und Veranstaltungen, auf Reisen und in der Freizeit, zu Behördengängen, bei Bankgeschäften.

 

Zu unseren Tätigkeiten gehören auch z.B. Briefe vorlesen, Besuch bei Verwandten, Planung von einem Umzug, Ausstellungen besuchen, Urlaubsreisen, Teilnahme an Sportveranstaltungen, Medikamente sortieren, Elternabende, usw.

 

Taubblindheit ist eine schwere Behinderung. Steht diesen Menschen eine tägliche Assistenz zu?

Der Bedarf an Assistenz ist sehr individuell und gesetzlich leider nicht geregelt. Wir schließen uns der Erklärung vom gemeinsamen Fachausschuss hörsehbehindert / taubblind (GFTB) an, in der, taubblinden Menschen mit dem Merkzeichen „TBL“ im Schwerbehindertenausweis mindestens ein Assistenzbedarf von 20 Stunden wöchentlich anerkannt werden soll, ohne dass sie diesen Bedarf begründen müssen.

 

Der Unterstützungsbedarf der Betreffenden ist aufgrund ihrer doppelten Sinnesbehinderung in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Information und Alltagsbewältigung erheblich. Ein wöchentlicher Bedarf von 20 Stunden ist eine absolute Untergrenze, da in der Regel höhere Bedarfe nachgewiesen werden können.

 

Wie ist die Vergütung für Taubblinden- Assistenten und wer sind die Kostenträger für die Einsätze?

Die Kostensätze werden durch die Kommunikationshilfenverordnung (KHV) § 5 (3) in Verbindung mit dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) § 9 (5), geregelt. Momentan beträgt der Stundensatz 63,75 €.

 

Es gibt vier unterschiedliche Kostenträger:

 

1.    Krankenkasse: Alle taubblinden Menschen können mit einem zertifizierten TBA, der Mitglied im TBA-Verband e.V. ist und an einer Krankenkassenschulung teilgenommen hat, zum Arzt oder zur Therapie gehen.

2.    Sozialamt: (EGH= Eingliederungshilfe/PB= Persönliches Budget). Viele Taubblinde bekommen Eingliederungshilfe. Diese soll helfen, dass Taubblinde so gut wie möglich selbstbestimmt leben können. Die taubblinde Person soll hierzu einen Antrag beim zuständigen Leistungsträger (örtliche oder überörtliche Sozialhilfeträge) stellen und das Amt entscheidet, wie viele Stunden Assistenz der Taubblinde in der Woche bekommt.

3.    Honorar privat vom TBL finanziert: Der TBL handelt mit dem TBA ein Honorar aus, welches sich nach der KHV/ dem JVEG richten sollte und bezahlt es aus seinem privaten Mitteln. Dies geschieht, da keine allgemeine gesetzliche Regelung zur TBA-Finanzierung besteht.

4.    Ehrenamt: Noch immer arbeiten viele Assistenten ehrenamtlich, weil die Bezahlung der Assistenzdienstleistung nicht ausreichend gesetzlich geregelt ist.

 

Gehörlose Menschen haben öfters Probleme mit der Kostenübernahme von Gebärdensprachdolmetschern. Kämpfen Taubblinde mit den gleichen Problemen?

Nur die Kostenübernahme der TBA durch die Krankenkassen ist gesetzlich geregelt. Für taubblinde Menschen ist es sehr schwer, erfolgreich Anträge auf Taubblindenassistenz als Eingliederungshilfe/ persönliches Budget zu stellen. Das Antragsverfahren ist für sie zu kompliziert und die zuständigen Stellen gehen mit den Antragstellern häufig zu ablehnend um. Deshalb ist es an der Zeit, dass die Politik den taubblinden Menschen mit dem Merkzeichen „TBL“ im Schwerbehindertenausweis mindestens ein TBA-Bedarf von 20 Stunden wöchentlich anerkennt!

 

Taubblinden-Assistenten benutzen neben der Gebärdensprache auch Taktile Gebärden und Lormen. Was sind Taktile Gebärden und Lormen?

Grundlage des taktilen Gebärdens ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Der Taubblinde legt seine Hände auf die Hände des Gesprächspartners. Dadurch werden die Form, Bewegung, Handstellung und Ausführungsort abgefühlt. Es ist aber nicht so einfach wie es sich anhört, denn die Gebärdensprache zu sehen, ist etwas anderes als sie taktil wahrzunehmen. Auch das braucht sehr viel Übung und setzt eine hohe Gebärdensprachkompetenz voraus.

 

Mimik und Gestik sind Bestandteil der DGS. Wenn diese nicht gesehen werden können, fehlen dem Taubblinden wertvolle Informationen. Beim taktilen Gebärden wird der fehlende Bestandteil durch weitere Gebärden ersetzt. Mimik kann z.B. ersetzt werden durch erklärende Adjektive, Gestik muss ersetzt werden durch die Grundgebärde, z.B. Nicht-verstanden (eine Gebärde und der Geste „Kopfschütteln“) wird zu nicht verstanden (zwei einzelne Gebärden). Der Gebärdenraum ist in der Regel kleiner als bei der DGS.

 

Das Lormen ist ein Tastalphabet. Die Handinnenfläche dient als „Tastatur“, ähnlich einer Tastatur des Computers. Die einzelnen Buchstaben werden auf den Fingern und der Handfläche mit Berührungen dargestellt durch antippen, streichen oder drücken. Das „Schreiben“ ist sehr schnell zu erlernen. Das „Lesen“, also das Aufnehmen der einzelnen kurzen Fingerbewegungen auf der eigenen Hand erfordert die ganze Konzentration und braucht viel Übung.

 

Das Lormen kann nicht als „die Sprache der Taubblinden“ bezeichnet werden. Es ist nur ein Hilfsmittel, um Lautsprache „begreifbar“ zu machen. Lautsprachlich aufgewachsene Menschen lernen es vergleichsweise leicht, denn die Sprachstruktur ist dieselbe. Für Gebärdensprachnutzer ist das Lormen meistens nicht die erste Wahl, da die deutsche Sprache eher als Fremdsprache empfunden wird. Dennoch ist es auch für sie hilfreich, das Lormen zu kennen, da schwierige Begriffe, Namen oder auch mal schlecht abfühlbare Gebärden als gelormtes Wort schnell verstanden werden können.

 

Wie wird jemand TBA? Wo kann man sich ausbilden lassen und welche Vorkenntnisse werden benötigt?

Die Qualifizierungsmaßnahmen zur TBA wurden nach den Richtlinien des Gemeinsamen Fachausschusses für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen (GFTB) erstellt und richten sich an gehörlose, hörende und schwerhörige Interessenten. Es werden momentan neue Richtlinien und deren Umsetzung im GFTB entwickelt und diskutiert.

Je nach Ausbildungsinstitut umfasst die Qualifizierung meist einen Zeitraum von einem bis anderthalb Jahren. Sie finden häufig an einem Wochenende im Monat statt und können damit berufsbegleitend durchgeführt werden.

 

Es gibt 4 Ausbildungsinstitute in Deutschland, die unabhängig vom TBA-Verband e.V., die Qualifizierung zur TBA anbieten: die Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn, das GIB-BLWG in Nürnberg, das Deutsche Taubblindenwerk in Hannover und das Taubblinden-Assistenz Projekt in Recklinghausen. Zudem hat die Diakonische Akademie in Moritzburg in der Vergangenheit 2 TBA-Qualifizierungen durchgeführt.

 

Allgemeine Zugangsvoraussetzungen für die Qualifikation sind:

 

·         Motivation zur Begleitung taubblinder Menschen und erste Erfahrungen

·         grundlegende Kenntnisse der Deutschen Gebärdensprache

·         Schriftsprachkompetenz

·         Mindestalter 21 Jahre

·         Erfolgreiche Teilnahme an einem Bewerbungsgespräch

 

Je nach Institut können noch weitere Voraussetzungen möglich sein, beispielsweise das erweiterte Führungszeugnis.

 

Den Teilnehmenden entstehen Kosten mit einem Eigenanteil der zwischen 450 € bis 600 € liegt (zzgl. Übernachtungs-, Fahrt- und Verpflegungskosten).

 

In Ihrem Verband werden momentan 193 TBA mit abgeschlossener Qualifizierung und 7 TBA in Ausbildung, als Mitglieder geführt. Gibt es genug Taubblinden-Assistenten in Deutschland?

Wenn wir von geschätzten 10.000 taubblinden Menschen in Deutschland ausgehen, gibt es kein Gleichgewicht zwischen der Anzahl von TBL und TBA. Der Bedarf an Assistenten ist um ein Vielfaches grösser und es fehlen sehr viele qualifizierte TBA.

 

Es mangelt an der Umsetzung gesetzlicher Grundlagen, um eine ausreichende Taubblinden-Assistenz finanziell für alle TBL abzusichern. Wie schon erwähnt, ist die Forderung nach einer Mindestanzahl von 20 Stunden wöchentliche TBA, die automatisch an das Merkzeichen „TBL“ gebunden ist, möglichst schnell politisch umzusetzen.

 

Um ein vollzeitliches Arbeiten als TBA zu ermöglichen benötigen wir gute Arbeitsbedingungen. Bundesweit sind sehr große Unterschiede bei der Bewilligung von Stunden vom Amt zu verzeichnen. In manchen Bundesländern gibt sehr wenige TBL, welche die Dienstleistungen von TBA kennen und in Anspruch nehmen, sodass TBA nicht mit dem Einkommen als TBA ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

 

Ist es ein Beruf mit Zukunft?

Die Arbeit der TBA wird auch in Zukunft relevant sein. Sobald taubblinde Menschen mit dem Merkzeichen „TBL“ im Schwerbehindertenausweis ein Assistenzbedarf von mindestens 20 Stunden wöchentlich anerkannt bekommen, werden noch mehr TBA benötigt. Die Umsetzung ist in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert und muss politisch von allen Beteiligten gemeinsam vorangetragen werden.

 

Zusätzlich wird die Ausbildung modernisiert und erweitert, damit wir weiter intensiv und zeitgerecht auf die Bedürfnisse der TBL eingehen können. So wird es hoffentlich künftig eine Anerkennung des Berufsbildes der TBA geben!

 

Was war die schönste Situation, die Sie als TBA erlebt haben?

Unsere Arbeit als TBA ermöglicht taubblinden Menschen ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu gestalten. Daran teilzuhaben und dies zu ermöglichen, ist der Motor unserer Arbeit.

 

Ein Beispiel von Sabine Gerlach: Als frisch qualifizierte TBA begleitete ich einen TBL am Bootshaus in Münster. Es war Sommerzeit und wir saßen im Außenbereich. Aufgrund des von der Sonne gewärmten Bodens entschloss ich mich meine Sandalen beiseite zu legen.

Der TBL erzählte erstaunt, er sei seit Kindertagen nicht mehr barfuß gelaufen. Aufgrund seiner Vollerblindung begründete er seine Bedenken barfuß zu laufen. Ich versicherte ihm besonders gut aufzupassen, sodass er ebenfalls unbeschadet barfuß laufen konnte. Während eines kleinen Spaziergangs blieben wir stehen, um die aufsteigende Wärme des Bodens sowie die Struktur des Rasens intensiv an den Füßen zu spüren. Des Weiteren ließen wir am Bootssteg die Beine im Wasser baumeln und genossen hier die kühlende Frische. Die Bedeutsamkeit und Freude dieses Erlebens ließen sich von seinem Gesicht ablesen.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Sabine Gerlach, Lars Neuhaus, Barbara Niese

 
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