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Experten-Interview Oktober 2023



Niemals aufgeben und niemals entmutigen lassen! – Interview mit der gehörlosen HNO Chefärztin Dr. Veronika Wolter

Ein Cochlea-Implantat (CI) ist eine Hörprothese für Gehörlose, Ertaubte und hochgradig Schwerhörige, bei denen die Versorgung mit einem Hörgerät nicht mehr ausreicht. Dr. med. Veronika Wolter ist seit Juli 2022 Chefärztin in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Helios Hörklinik Oberbayern in München. Sie ist gehörlos und trägt selbst zwei Hörimplantate.

 

Frau Dr. Wolter, seit über 30 Jahren werden in Deutschland Cochlear Implantate eingesetzt. Für wen empfehlen Sie ein CI und was sind die gesundheitlichen Voraussetzungen?

Dr. Wolter: Cochlea Implantate eignen sich für alle, die ein- oder beidseitig ertaubt sind und mit Hörgeräten nicht ausreichend gut hören. Für Betroffene, bei denen die Mittelohrchirurgie gescheitert ist oder bei denen bereits viele Ohr OPs an einem Ohr durchgeführt wurden, ist das CI oft die einzige Möglichkeit das Gehör wiederherzustellen.

Bevor die Implantation durchgeführt werden kann, steht zunächst eine gründliche Diagnostik, Hörmessungen und auch Bildgebung um die Cochlea und den Hörnerven darzustellen. Das ist sehr wichtig, denn ohne vorhandenen Hörnerv kann auch mit CI kein Hören stattfinden.

 

Viele Menschen haben Ängste vor chirurgischen Eingriffen. Ist diese Operation ein großer chirurgischer Eingriff?

Die OP ist ein mittelgroßer Eingriff, wobei die Komplikationsrate aber bei unter einem Prozent liegt. Bei nicht voroperierten Ohren ist mit etwa einer Stunde reiner OP-Zeit zu rechnen.

 

Die Patientinnen und Patienten können noch am gleichen Tag wieder aufstehen, sich anziehen und alles essen. Nach drei Tagen können die Antibiose (=medikamentöse Behandlung mit Antibiotika) abgesetzt und der Kopfverband entfernt werden, danach erfolgt dann die Entlassung mit einem Pflaster hinter dem Ohr.

 

Um ein CI erfolgreich zu verwenden, folgt auf die Operation die Nachsorge. Wie lange dauert die Nachsorge und was wird dort genau gemacht?

Die Nachsorge besteht aus Erstanpassung, Basis- und Folgetherapie. Innerhalb weniger Tage nach der OP werden häufig schon Sofortanpassungen durchgeführt. Damit habe ich aber ehrlich gesagt keine guten Erfahrungen gemacht. Deshalb erfolgen bei uns die ersten Anpassungen innerhalb von zehn Tagen bis drei Wochen. Diese Zeit sollte man dem Körper für die Wundheilung geben und sich trotz der großen auch emotionalen Anspannung etwas gedulden. Die Basisanpassungen werden dann zwischen vier bis acht Wochen nach der OP durchgeführt.

 

Basis- und Folgetherapie erstrecken sich dann über einen Zeitraum von bis zu 2 Jahren, wobei die meisten Patientinnen und Patienten die Therapie nach 12 Monate abschließen.

Insgesamt sind ungefähr zwischen 20 und 40 Termine nötig, immer in Kombination mit einer logopädischen Therapie am Heimatort, um die wir uns über unser großes Netzwerk mitkümmern.

 

Eine vertraute Umgebung ist für die Betroffenen sehr wichtig, deshalb haben wir in Kooperation mit Hörakustikerinnen und Hörakustikern in ganz Deutschland ein Konzept entwickelt, bei dem nur eine Mindestanzahl an Terminen in meiner Klinik für eine erfolgreiche Therapie notwendig sind.

 

Welche Kosten werden von der Krankenkasse übernommen?

Ja, die Krankenkasse übernimmt in die Kosten für das Implantat sowie das äußere Gerät, den Sprachprozessor, komplett – und für die Batterien oder auf Wunsch auch für die Akkuversorgung.

 

Das ist schon etwas ganz Besonderes in Deutschland, denn meines Wissens gibt es diese Kostenübernahme in der Energieversorgung sonst nirgends. Auch die beidohrige Versorgung ist in Deutschland inzwischen Standard.

 

Welche Komplikationen können nach einer Operation oder bei der Nachsorge auftreten?

Komplikationen sind insgesamt sehr selten. Gelegentlich wird phasenweise von Schmerzen oder Ohrgeräuschen berichtet, ganz selten treten Wundinfektionen oder Blutungen auf.

 

Insgesamt wird dieser Eingriff als sehr sicherer eingestuft. Das kann ich nicht nur als Ärztin, sondern auch als Patientin bestätigen. In meiner Klinik am Helios Klinikum München West stellen wir die maximale Sicherheit unserer Patientinnen und Patienten unter anderem durch unsere hohen Qualitätsstandards in der intraoperativen- Bildgebung und Navigation sicher.

 

Wie ist das Feedback Ihrer Patienten nach Abschluss der Nachsorge?

Mit einem Wort: Großartig! Ich erlebe regelmäßig Menschen, die vor Freude weinen, weil sie endlich so am Leben teilnehmen können, wie sie es sich wünschen

Das gelingt aber nur mit einer realistischen und gründlichen Aufklärung vor der OP. Es muss von Anfang an klar sein, dass jeder Mensch eine ganz individuelle Prognose für das Implantat hat. Diesen Prozess zu begleiten und zu versorgen ist aber eine unglaublich schöne Aufgabe. Ich kann ohne Abstriche sagen: Ich liebe meinen Beruf!

 

Kann das gleiche CI ein Leben lang getragen werden oder muss es nach einiger Zeit ausgetauscht werden?

Die Implantate, die heute eingesetzt werden, sind extrem langlebig und können ein Leben lang getragen werden. Es gibt ja quasi keinen Verschleiß, denn die Verschleißteile werden alle außen am Sprachprozessor getragen.

 

Übrigens sind die heute eingesetzten Implantate so fein und flexibel, die OP-Technik so schonend und strukturerhaltend, dass der Einsatz von künftigen technischen Neuerungen, aber auch grundsätzlich andere Therapieansätze wie Stammzellinjektion oder medikamentöse Injektionen in die Cochlea möglich bleiben.

 

Seit einigen Jahren können auch Babys ein CI bekommen. Wächst bei der körperlichen Entwicklung das Innenohr auch mit? Müssen diese CIs später ausgetauscht werden?

Nein, die Cochlea wird im Mutterleib ab der achten Schwangerschaftswoche ausgebildet, und wächst danach nicht mehr. Das Implantat kann also auch bei einer OP im ersten Lebensjahr ein Leben lang getragen werden.

Ein Austausch wird nur dann durchgeführt, wenn von es vom Patienten oder von der Patientin gewünscht wird oder eine neue Technik den Austausch sinnvoll macht.

 

Untersuchungen mit MRT sind ein großes Thema. Wie steht es um die MRT-Kompatibilität von Cis? Welche Informationen haben Sie für Patienten und für Radiologen?

CIs der aktuellen Generation sind kompatibel mit allen MRTs für 1.5 und 3 Tesla. Die einzige Einschränkung bilden Aufnahmen vom Kopf. Vor allem bei Verdacht auf einen Hirntumor kann die Bildgebung schwierig werden. Deshalb wird dann über einen kleinen Hautschnitt der Magnet entfernt und nach MRT wiedereingesetzt. Also auch das ist möglich. Sicherheitshalber sollte man immer den CI-Ausweis zum Radiologen mitnehmen.

 

Welche Alltagsprobleme können noch durch das Tragen eines Cis auftreten?

Ich trage selbst seit 14 Jahren ein CI und habe fast alles ausprobiert: Ski, Rennrad, Schwimmen und Tauchen. Meine Erfahrung ist, dass es für alles eine Lösung gibt.

Eine kleine Ausnahme bilden Stromanwendungen am Kopf und der Einsatz monopolarer chirurgischer Instrumente. Hier rate ich definitiv von einer Nutzung ab. Zumindest aber sollte sehr sorgfältig abgewogen werden, ob eine Nutzung wirklich alternativlos ist.

 

Sie operieren nicht nur CIs, sondern tragen auch selbst seit 14 Jahren zwei CIs. Was hat es für Sie bedeutet, wieder zu hören?

Nach all den Jahren des Kämpfens war das CI für mich ein großer Befreiungsschlag. Durch die wiedererlangte Fähigkeit derart gut zu hören gingen auf einmal so viele Dinge so viel einfacher – vor allem beruflich, aber natürlich auch im privaten Bereich.

 

Ich erinnere mich noch gut daran, wie faszinierend viele ganz alltägliche Nebengeräusche für mich waren, wie zu Beispiel das Prasseln von Regentropfen auf dem Auto oder das Platzen von Milchschaumbläschen auf dem Cappuccino. Ich bin wiedereingetaucht in eine Welt, von der ich Jahrzehntelang ausgeschlossen war. Das war schon überwältigend!

 

Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie rücksichtslos die Gesellschaft mit Hörbehinderten/Tauben umgeht. Was empfehlen Sie unseren Lesern, die ähnliche Ausgrenzungen erleben wie Sie selbst erlebt haben?

Niemals aufgeben und niemals entmutigen lassen! Die meisten Menschen wissen nicht, was es bedeutet schwerhörig oder gehörlos zu sein. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, als dumm zu gelten, weil man dauernd nachfragen muss. Wie sich die Blicke anfühlen, nachdem man an der falschen Stelle im Gespräch gelacht hat. Das zu ertragen ist unglaublich hart und geht an niemandem spurlos vorüber. Mir hat es immer geholfen, eigene Ziele und Träume zu haben und zu verfolgen.

 

Die sollte niemand aufgeben, egal, was die anderen sagen. Ich habe in meinem Leben so oft gesagt bekommen, ich könne dies oder jenes nicht machen oder werden. Hochangesehene Koryphäen haben mir prophezeit, ich würde niemals Ärztin werden und im OP hätte ich schon gleich gar nichts verloren.

Heute operiere ich als Chefärztin selbst hochspezialisierte Neuroprothesen in die Hörschnecken meiner Patienten und gebe damit Menschen eine Lebensqualität zurück, wie es in nur wenigen anderen medizinischen Bereichen möglich ist.

 

Für gehörlose Leser könnte es besonders interessant sein, dass Sie sich mit ihren Patienten auch in Gebärdensprache unterhalten können. Wie sind Sie zur Gebärdensprache gekommen?

Die Gebärdensprache habe ich eigentlich erst dann so richtig zu schätzen gelernt, als ich sie aufgrund meiner Implantate gar nicht mehr hätte gebrauchen müssen. Ich hatte davor lange abgelehnt, sie richtig zu lernen. Vielleicht auch, weil ich das als so etwas wie ein Eingeständnis interpretiert hätte, dass es nichts mehr wird, mit dem Hören und damit auch mit meinen Zielen und Träumen.

 

Im Nachhinein würde ich das anders machen. Mittlerweile habe ich da viel nachgeholt und bin ein großer Fan der Gebärdensprache. Auch weil ich weiß, was für eine enorme Bereicherung sie auch in der Kommunikation zwischen Gehörlosen und Hörenden ist.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: ©Helios

 
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