Inklusion und Barrierefreiheit
Experten-Interview November 2023
Die Faszination der Gebärdensprache zu erleben – hierzu lädt die Ausstellung „HANDS UP – Erlebnis Stille“ in Wien ein
Am 16. November 2023, zum Internationalen Tag für Toleranz der UNESCO, wird die Ausstellung „HANDS UP – Erlebnis Stille“ in der Blumauergasse 6, 1020 Wien neu eröffnet. Ich habe Marietta Adlbrecht, Organisatorin der Ausstellung und Geschäftsführerin der Betreiberfirma „equalizent Schulungs- und Beratungs GmbH“ in Wien interviewt.
Frau Adlbrecht, die Ausstellung kann schon auf fünf erfolgreiche Jahre im Schottenstift zurückblicken. Jetzt haben Sie in der Leopoldstadt eine neue und größere Lokation bekommen. Inwieweit wurde die ursprüngliche „HANDS UP Ausstellung erweitert?
Marietta Adlbrecht: Wir hatten großes Glück und haben helle und offene Ausstellungsräume gefunden. Die reine Ausstellungsfläche ist jetzt auf 240 m² um 1/3 größer geworden Das sehr erfolgreiche Konzept dieser Sensibilisierungs-Ausstellung wurde natürlich beibehalten und einzelne Bereiche sind jetzt noch interaktiver gestaltet.
In der Ausstellung gibt es verschiedene Themenbereiche, welche sind es?
Uns ist es wichtig, hörende Menschen für die Vielfalt des Themas Gehörlosigkeit und Gebärdensprache zu sensibilisieren. In mehreren Stationen werden sowohl Themen wie Mimik und Körpersprache, Gebärdensprache und Barrieren im Alltag, aber auch Gehörlosenkultur den hörenden Besuchern interaktiv nähergebracht.
Taube Guides führen durch die Ausstellung und vermitteln den Besuchern ihren Alltag. Können die Besucher hier auch erste Gebärden erlernen?
Selbstverständlich! Die Besucher können erste Erfahrungen in der Kommunikation mit tauben Menschen machen und Basisgebärden lernen. Uns ist es sehr wichtig, dass die Faszination der Gebärdensprache und die wunderbaren Räume, die sich durch diese Sprache ergeben, erlebt werden. Viele Gebärden sind prägnante, visuelle Verkürzungen von Alltagssituationen, führen zu einem ein Aha-Erlebnis und können schnell gemerkt werden.
Die Ausstellung ist eine Reise durch die Stille. Mit welchem Ziel?
Das Kernthema ist Gehörlosigkeit zum Erleben und Anfassen. Ziel ist es, Berührungsängste gegenüber gehörlosen Menschen abzubauen und Brücken zwischen der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen zu schlagen.
Das Herzstück der Ausstellung sind unsere Guides, die selbst gehörlos sind und Besucher durch die Ausstellung begleiten.
Wir, „equalizent“, sind ein Schulungszentrum für taube Menschen, in dem ausschließlich in Gebärdensprache unterrichtet wird. Unsere Kurse und Schulungsmaßnahmen zielen darauf ab, taube Jugendliche und/oder Erwachsene aus- und weiterzubilden, dabei zu unterstützen am ersten Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Im Laufe der letzten 20 Jahre, in denen wir immer diese Verbindung zwischen der gehörlosen Welt und der hörenden Welt herstellen, ist uns aufgefallen, wie wenig hörende Menschen über gehörlose Menschen Bescheid wissen. Wie viele Mythen im Umlauf sind, wie viel Irrglauben es gibt und welche Barrieren die hörende Welt aus Unwissenheit für gehörlose Menschen errichtet. Mit unserer interaktiven Ausstellung wollen wir Brücken bauen.
Die frühere Ausstellung haben 25.000 Menschen darunter 13.000 Schüler besucht. Wie waren die Rückmeldungen? Ist die Gesellschaft in Österreich genug sensibilisiert für den Umgang mit Gehörlosen?
Nein! Wir haben zwar viele Menschen bereits erreicht, aber bei weitem nicht genug. Wir sind ein Land mit 9 Mio. Einwohnern. Daran kann man sehen, wieviel Menschen noch nicht bei uns waren.
Abgesehen davon, ist die Ausstellung so voll von Eindrücken, Informationen und Erleben, dass die Besucher sicherlich mehrmals kommen müssten, um alles mitnehmen zu können.
Das neue Barrierefreiheitsgesetz in Österreich, der sogenannte "European Accessibility Act“, verpflichtet ab 28. Juni 2025 Unternehmen, nur noch barrierefreie Produkte auf den Markt zu bringen. Wie realistisch sehen Sie die Umsetzung dieses Vorhabens? Kann „equalizent“ hier auch mitwirken?
Selbstverständlich. Wir kämpfen sogar sehr stark dafür, dass die Welt für unsere Kursteilnehmer und Mitarbeiter (derzeit sind - fast 50% unserer Mitarbeiter gehörlos!) - barrierefrei wird. Wir bieten Unternehmen bzw. auch den Organisationen der Öffentlichen Hand, wie z.B. Ministerien u.ä. unsere Expertise an.
Frau Adlbrecht, Sie haben sich beruflich neu orientiert, in die gehörlose Welt gewechselt und seit 2022 sind die neue Geschäftsführerin bei „equalizent“. Was hat sich bei „equalizent“ unter Ihrer Geschäftsleitung geändert?
Ich hatte großes Glück, dieses wunderbare Unternehmen von der Gründerin Monika Haider übernehmen zu dürfen. Ich freue mich sehr dieses außergewöhnliche Unternehmen weiter zu führen und weiter zu gestalten. Wir blicken im nächsten Jahr auf 20 erfolgreiche Jahre zurück. Vieles wurde in diesen Jahren durch das Engagement von „equalizent“ erreicht. Es wurden neue Berufe für gehörlose Menschen zugänglich, die vorher nicht möglich waren.
Wir haben im letzten Jahr sehr erfolgreiche Sprachkurse für Ukrainer angeboten. Ein neues Format, das dann noch erweitert wurde und derzeit als Berufsqualifizierungsprojekt läuft. Es war eine sehr herausfordernde Situation, da in Wien ganz plötzlich 120 gehörlose Ukrainer angekommen sind. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, wie die Kurse aussehen sollten, wer sie finanzieren würde.
Mehr als 70 Personen haben bei uns erfolgreich einen Sprachkurs Deutsch/Österreichische Gebärdensprache absolviert. Einige davon sind schon am Arbeitsmarkt und einige in einer weiteren Qualifizierungsmaßnahme.
Im Außen ist scheinbar vieles gleich geblieben. Im Inneren hat sich allerdings viel geändert. Wenn ein Unternehmen von einem eigentümergeführten Unternehmen in ein fremdgeführtes Unternehmen übergeht, dann sind neue Strukturen notwendig. Es ist ein Umdenken und ein Umbauen gefordert, dass ich mit meinem Geschäftsleitungs-Team sehr erfolgreich umgesetzt habe.
Welche Pläne möchten Sie noch verwirklichen?
Aus meiner Sicht gibt es in diesem Bereich noch sehr viel zu tun. Unser Ziel ist es einerseits für gehörlose Kursteilnehmer ein qualitativ hochwertiges Aus- und Weiterbildungsangebot anzubieten und andererseits vielen hörenden Menschen, die österreichische Gebärdensprache zu lehren. Je mehr Hörende unsere Ausstellung anschauen und im Anschluss gebärden lernen, desto barrierefreier wird die Welt für gehörlose Menschen.
Sie haben vor kurzem das Diplom in Gebärdensprache gemacht und können sich mit Gehörlosen ganz souverän unterhalten. Sie sind also das beste Beispiel, dass auch Hörende die Gebärdensprache erlernen können…
Ja. Ich bin sehr glücklich und auch ein bisschen stolz, dass ich es geschafft habe, neben meiner neu übernommenen Tätigkeit als Geschäftsführerin von „equalizent“, auch noch den Kurs zu besuchen und das 1. Sprachdiplom zu machen. Von „souverän unterhalten“ bin ich leider noch etwas entfernt, aber ich denke meine Mitarbeiter sind schon ganz zufrieden.
Aus meiner Sicht ist es für hörende Menschen schon eine besondere Herausforderung in diese bildhafte Sprache einzutauchen. Für mich ist es aber das Schönste und Beste, was ich in den letzten Jahren lernen durfte. Dadurch, dass diese Sprache so anders ist, haben sich für mich völlig neue Lernchancen ergeben und ich habe so viel über mich gelernt, was ich nicht für möglich gehalten habe.
Allerdings ist mit dem Lernen noch nicht Schluss. Der vertiefende Aufbaukurs hat bereits begonnen, d.h. weitere Herausforderungen und Lernchancen im Spracherwerb für die nächsten 10 Monate. Ich freue mich schon sehr darauf!
Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!
Text: Judit Nothdurft
Fotorechte: Marietta Adlbrecht
Ausstellung „HANDS UP – Erlebnis Stille“
Blumauergasse 6, 2. Hof, 1. Stock, 1020 Wien
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag: 09:00 – 16:00 Uhr
Samstag: auf Anfrage, Montag, Sonn- und Feiertag: geschlossen
Reservierung erforderlich: +43 664 85 87 550 Mail: booking@handsup.wien