Inklusion und Barrierefreiheit
Experten-Interview April 2024
Was bringt das Barrierefreiheits-stärkungsgesetz für Gehörlose?
Nach dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) müssen Hersteller, Händler und Importeure bestimmte Produkte und Dienstleistungen ab 2025 barrierefrei anbieten. Was heißt das genau und welche Vorteile bringt das für schwerhörige und gehörlose Kunden? Hierzu habe ich Sven Niklas, Jurist und Büroleiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, interviewt.
Herr Niklas was bedeutet das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz? Was ist das Ziel dieses Gesetzes und ab wann tritt es in Kraft?
Sven Niklas: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ist die Umsetzung des European Accessibility Acts (EAA) in Deutschland, kurz die Umsetzung einer europäischen Richtlinie in nationales Recht. Zweck dieses Gesetzes ist es, im Interesse der Verbraucher und Nutzer die Barrierefreiheit von einigen Produkten und Dienstleistungen zu gewährleisten.
Welche Unternehmen fallen darunter und worauf müssen sie sich einstellen? Sind hier auch Hersteller/ Dienstleister aus dem Ausland betroffen (z.B. China, USA usw.)?
Es fallen alle Unternehmen unter das BFSG, die Produkte und Dienstleistungen, die im BFSG aufgeführt werden, auf dem europäischen Markt anbieten wollen. Dabei ist es egal, ob die Hersteller aus Asien oder Amerika kommen. Sie müssen sich an die Regeln des europäischen Binnenmarktes anpassen, der unter Umständen andere Regelungen hat als die anderen internationalen Märkte.
Welche Produkte und Dienstleistungen müssen verpflichtend barrierefrei angeboten werden?
Barrierefrei zu gestaltende Produkte nach dem BFSG sind unter anderem:
• Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones, Spielekonsolen
• Geld-, Fahrausweis- und Check-in-Automaten
• Fernsehgeräte mit Internetzugang
• E-Book-Lesegeräte
• Router oder Modems
Barrierefrei zu gestaltende Dienstleistungen nach dem BFSG sind unter anderem:
• Telefondienste
• E-Books und deren Software
• Messenger-Dienste
• Auf Mobilgeräten angebotenen Dienstleistungen (inkl. Apps)
• Bankdienstleistungen
• Elektronischer Geschäftsverkehr (gesamter Online-Handel mit Verbrauchern)
• Personenbeförderungsdienste (für Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdienste nur interaktive Selbstbedienungsterminals)
Heißt das zum Beispiel, dass Verpackungen und Anleitungen für Geräte/ Medikamente usw. zukünftig auch in Gebärdensprache angeboten werden müssen?
Anleitungen und Verpackungen werden auch zukünftig nicht verpflichtend Informationen in Deutscher Gebärdensprache (DGS) bereithalten. Der Bereich DGS ist im BFSG nur für einen sehr kleinen Teilbereich geregelt. In der Kommunikation mit den Marktüberwachungsbehörden, die für die Überprüfung der Einhaltung des BFSG verantwortlich sind, muss die Behörde mit den Bürgerinnen und Bürgern auch in DGS kommunizieren. Weitere Regelungen zur DGS enthält das BFSG nicht.
Wie sieht es bei den Online-Shops aus? Müssen sie Informationen zu den Produkten/ AGBs/ oder Kontaktaufnahme für ein Kundengespräch auch in Gebärdensprache anbieten?
Nein, dies wird nicht vom BFSG umfasst. Der Hintergrund liegt in der EU-Richtlinie selbst: Diese regelt vor allem die technische Barrierefreiheit. Die barrierefreie Kommunikation in Gebärdensprachen ist kein Teil dieser Richtlinie gewesen.
Für die Umsetzung sind sicherlich noch viele Fragen zu klären. Wo können sich Unternehmen über die gesetzlichen Vorgaben informieren?
Zunächst würde ich auf unsere Website: www.bundesfachstelle-barrierefreiheit verweisen, auf der es einige wesentliche Informationen gibt.
Des Weiteren haben wir ein Webinar aufgezeichnet, welches ebenfalls zu insgesamt 7 Themen inklusive Einführungswebinar zum BFSG informiert. Die Videos werden selbstverständlich mit DGS-Übersetzung und Untertiteln angeboten. Sie werden in Kürze auf unserer Website abrufbar sein.
Zudem verlinken wir auf verschiedene andere Websites, die ebenfalls gute Informationen zum BFSG anbieten.
Gibt es eine Art „TÜV“, der die diese Umsetzung kontrolliert oder begutachtet?
Die Umsetzung des BFSG obliegt den einzelnen Bundesländern. In den Ländern werden Marktüberwachungsbehörden gegründet, die sich um die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen kümmern müssen. Diese geben auch einen Bericht ab, der über eine zwischengeschaltete Bundesbehörde dann an die Europäische Kommission gesendet wird.
Was sind die Konsequenzen, wenn jemand die Vorgaben z.B. in Bezug auf Barrierefreiheit nicht umsetzt?
Die Konsequenzen sind vielfältig. Von einem Schlichtungsverfahren über Bußgelder von bis zu 100.000 Euro und der Untersagung, das Produkt oder die Dienstleistung weiter anzubieten, ist dies eine vollkommen neue Facette für das Barrierefreiheitsrecht. Am Ende wird die Praxis zeigen, ob die zuständigen Verwaltungsgerichte Urteile im Sinne der Barrierefreiheit fällen werden.
Herr Niklas, Sie als hörendes Kind einer gehörlosen Familie kennen die Barrieren für taube Menschen, die oft von der hörenden Welt ignoriert werden. Was meinen Sie, inwieweit wird das Gesetz helfen, unsere Gesellschaft für die alltäglichen Barrieren von Hörbehinderten und Gehörlosen zu sensibilisieren?
Im Sinne der technischen Barrierefreiheit wird das Gesetz eine großartige Chance sein, das Barrierefreiheitsrecht auf eine neue Stufe zu heben.
Juristisch betreten wir für die Barrierefreiheit ein neues Gebiet und ich bin sehr gespannt auf die praktische Ausgestaltung. Für Gehörlose und Menschen mit Hörbeeinträchtigung/Hörbehinderung wird das Gesetz nur indirekt zu einer Verbesserung führen. Ein direkter Anspruch auf DGS besteht nur gegenüber den Marktüberwachungsbehörden.
Wenn die Firmen aber eine vollumfängliche Barrierefreiheit umsetzen wollen, dann muss DGS berücksichtigt werden. An dieser Stelle der Hinweis, dass die Gebärdensprachgemeinschaft sich in den gesamten Prozessen zu Gesetzen und Normen sehr gerne einbringen darf, um ihre Position und Themen selbst vorzutragen! Die Aufmerksamkeit der Wirtschaft für das Thema Barrierefreiheit kann ein guter Motor für die DGS werden, wenn die richtigen Ideen auf die richtigen Umsetzer treffen.
Vielen Dank für das Interview!
Text: Judit Nothdurft
Bild Copyright: Bundesfachstelle Barrierefreiheit