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Experten-Interview Februar 2025



Ich war schon immer eine Kämpferin – Interview mit Heike Heubach, gehörlose SPD-Bundestagsabgeordnete

 

Heike Heubach ist seit März 2024 die erste gehörlose Bundestagsabgeordnete. Eigentlich sollte diese Amtszeit 1,5 Jahre dauern. Durch die vorgezogenen Neuwahlen am 23.02.2025 muss sie erneut für den Einzug in den Bundestag kämpfen. Im Interview erfahren wir mehr über ihre Pläne und ihren Wahlkampf.

 

Frau Heubach, erstmal vielen Dank, dass Sie sich mitten in Ihrem Wahlkampf für dieses Interview Zeit genommen haben. Wie viele Wahlkampfveranstaltungen haben Sie in den letzten Tagen absolviert?

Heike Heubach: Ziemlich viele! So viele, dass ich sie nicht mehr an einer Hand abzählen kann. Eine ganze Woche lang habe ich täglich Tür-zu-Tür-Wahlkämpfe geführt, jeweils in drei verschiedenen Orten.

 

Mein Wahlkreis Augsburg-Land und Aichach-Friedberg ist sehr groß. Neujahrsempfänge, Wahlveranstaltungen, Infostände an verschiedenen Orten – ich bin seit der Weihnachtspause fast täglich unterwegs. Nur diese Woche nicht, da ich in Berlin zur Sitzungswoche war. Ab dem Wochenende geht’s aber gleich wieder weiter.

 

Sie sind erst seit knapp einem Jahr im Bundestag. Was hat Sie ursprünglich dazu motiviert, in die Politik zu gehen?

In die Politik bin ich gegangen, um Veränderung zu bewirken und für Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen zu kämpfen. Ich war schon immer eine Kämpferin. Schon seit ich ein Kind war. Das hat sich mit meiner Rolle als Mutter nochmal verstärkt. Ich habe die Verantwortung gespürt, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, nicht nur für meine eigene Familie, sondern für alle, die sich eine gerechte und faire Gesellschaft wünschen.

 

Und als taube Person setze ich mich natürlich auch für die Gehörlosen-Community ein, rede für Menschen mit Behinderung und nicht über sie. Ebenso setze ich mich für viele weitere Communities ein – für queere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund, junge Menschen, Frauen und alle Menschen mit Behinderung. Durch meine eigenen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Barrieren weiß ich, was wir benötigen, und kann mich sehr gut für uns einsetzen.

 

Welche Bilanz ziehen Sie aus Ihrer bisherigen Arbeit im Bundestag und wie vermitteln Sie diese Erfolge den Wählern?

Meine erste Rede am 10.10.2024 war besonders – nicht nur, weil ich nach 75 Jahren Demokratie in Deutschland als erste taube Abgeordnete eine Rede halten durfte.

 

Ich wollte auch inhaltlich klar machen, dass es um eine bessere Welt für uns und kommende Generationen geht. Wir müssen alles dafür tun, den menschengemachten Klimawandel bestmöglich aufzuhalten. Wo dies nicht möglich ist, müssen wir Lösungen finden, um die Folgen abzumildern. Die Baugesetznovelle soll dafür sorgen, dass Städte besser auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereitet werden, mit Maßnahmen wie Schwammstadt und Sportplätzen als Überschwemmungsflächen.

 

Im Nachhinein wurde meine Rede dann auch noch als beste Rede des Jahres 2024 von der Universität Tübingen ausgezeichnet, was mich natürlich sehr geehrt hat.

 

Als Politikerin Sie sind innerhalb von kurzer Zeit sehr bekannt geworden. Ihre erste Rede wurde sogar in der Tagesschau gezeigt. Können Sie uns die „private“ Heike vorstellen?

Ich war im Kindergarten, in der Grundschule, der Mittelschule, der Wirtschaftsschule und der Fachoberschule für Gehörlose und Schwerhörige. Leider kann die Mehrheit der Sonderpädagogen bzw. Lehrer*innen keine Deutsche Gebärdensprache. Das Ziel von damals war, dass alle tauben Kinder sprechen lernen sollten, da sie sonst in der Mehrheit der Gesellschaft ausgeschlossen würden. Was so leider nicht funktioniert.

 

Für uns ist das sehr bedauerlich und das muss auch in der Öffentlichkeit bekannt werden. Taube Kinder müssen dringend in DGS unterrichtet werden, denn DGS ist ihre Muttersprache. Durch bilingualen Unterricht können die Kinder dann sowohl DGS als auch die deutsche Schriftsprache beherrschen lernen.

 

Zum Hintergrund: Nur rund 20% des gesprochenen Inhalts kann vom Lippenbild abgelesen werden. Doch es gibt Wörter wie zum Beispiel “Mutter” und “Butter”, die haben das gleiche Mundbild. Darum muss man sich die restlichen 80% aus dem Kontext zusammenreimen.

 

Einzelne Gebärden habe ich in der Frühförderung gelernt, ansonsten habe ich sie untereinander und auf dem Pausenhof sowie im Internat gelernt. Als ich in die Wirtschaftsschule kam, war ich im Internat.

 

In der Regel-Berufsschule wurde ich dann begleitet von Dolmetschenden. Es war schön zu wissen, dass ich alles verstand und in der ganzen Klasse problemlos kommunizieren konnte. In meiner Familie bin ich die Einzige, die taub ist.

 

Ich bin glücklich verheiratet und habe zwei gemeinsame Töchter, die inzwischen erwachsen sind. Mein Mann ist auch taub und meine Töchter hörend. Zuhause kommunizieren wir in DGS, was damit auch die Muttersprache unserer Töchter ist.

 

Was sind die größten Herausforderungen für Sie im Wahlkampf und wie gehen Sie damit um?

Eine große Herausforderung war zu Beginn das Klingeln an Haustüren – mittlerweile ist das nicht mehr so. Es ist jedoch nach wie vor sehr wichtig, viel vor Ort bei den Bürger*innen zu sein.

Mittlerweile ist die größte Herausforderung der Faktor Zeit, denn es ist nicht leicht bei einem so kurzen Wahlkampf in einem recht großen Wahlkreis überall präsent zu sein. Gebärdensprachdolmetschende sind immer mit dabei, um eine reibungslose Kommunikation zu gewährleisten.

 

Welche Themen stehen im Mittelpunkt Ihrer Kampagne und warum haben Sie sich für diese entschieden?

Mein Ziel ist es, eine bessere, umweltfreundliche, chancengleiche und gerechte Welt an die nächsten Generationen weiterzugegeben. Darum setze ich mich besonders für die folgenden fünf Themen ein:

 

·         Für mich ist bezahlbares Wohnen ein Grundrecht – nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land.

·         Egal, welches Geschlecht, welche Herkunft, welches Alter, mit oder ohne Beeinträchtigung – es braucht gleiche Chancen für alle.

·         Umwelt- und Klimaschutz: Dafür müssen wir die Klima-Resilienz stärken und die Prävention von Naturkatastrophen verstärken.

·         Hochwertige, kostenlose und digitale Bildung von der Kita bis zum Meister.

·         Eine nachhaltige, erschwingliche, barrierefreie und sichere Mobilität, denn diese ist entscheidend für eine gesellschaftliche und berufliche Teilhabe.

 

Ihre Partei, die SPD, hat die Gebärdensprache in das Wahlprogramm aufgenommen. Was bedeutet es konkret?

Der Ergänzungsantrag kam von mir und meinem Kollegen. Ein Wahlprogramm ist immer nur ein Kondensat jahrelanger innerparteilicher Debatten. Darum haben wir nur einen kleinen Abschnitt zur Gebärdensprache mit aufgenommen. Für mich steckt aber noch viel mehr hinter dem dort formulierten Anspruch „Gebärdensprache für alle“:

 

·         Gebärdensprachdolmetschende müssen überall verfügbar sein, beim Arzt, in der Ausbildung, in der Kultur, beim Neujahrsempfang, in Bundestagsdebatten etc.. Diese Unterstützung sollte für uns selbstverständlich werden.

·         Es muss mehr in die Ausbildung von Dolmetschenden investiert werden – sowohl für hörende als auch taube Dolmetschende, besonders aber auch für taube Gebärdensprachdozent*innen.

·         Es muss eine einkommensunabhängige Kostenübernahme für Dolmetschende im privaten und ehrenamtlichen Bereich geben.

·         Deutsche Gebärdensprache muss als eigenständige Sprache ins Bewusstsein gerückt werden.

·         Der Zugang von Gehörlosen zu Bildung, Kultur, Arbeitsmarkt und politischem Leben muss verbessert werden. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit ist nötig.

·         Taube Kinder und ihre Familien sollen DGS lernen können.

·         DGS soll flächendeckend als Wahlpflichtfach an Schulen auch für hörende Kinder angeboten werden.

·         Alle Lehrer*innen an Gehörlosenschulen müssen die Deutsche Gebärdensprache beherrschen.

·         Insgesamt braucht es mehr gebärdensprachkompetente Menschen in der Gesellschaft und in herausgehobenen gesellschaftlichen Rollen.

 

Welche Rückmeldungen haben Sie bis jetzt im Wahlkampf im Gespräch mit den Bürgern bekommen und wie sehen Sie Ihre Chancen für einen Wiedereinzug?

Ich bekomme sehr viele positive Rückmeldungen. Viele sind positiv überrascht, dass die Bundestagsabgeordnete vor Ort unterwegs ist oder sogar persönlich vor der Tür steht. Die Bürger*innen fühlen sich wertgeschätzt.

 

Mit meinem Listenplatz habe ich gute Chancen auf einen Wiedereinzug in den Bundestag. Ich werde weiterhin eine starke Präsenz im Wahlkreis bis zum Wahltag, und natürlich auch darüber hinaus, zeigen.

 

Sie haben vor kurzem Ihre Parteitagsrede auch auf LinkedIn gepostet. Welche Rolle spielen soziale Medien und digitale Formate in Ihrem Wahlkampf?

Hier geht es um die Rede zu dem vorhin angesprochenen Ergänzungsantrag, den wir gestellt haben – also: Eine klare Botschaft an alle, für die ich mich einsetze. Es war mir sehr wichtig, dass diese Rede, auch weiterverbreitet wird. Denn seien wir ehrlich: Wer schaut sich schon einen stundenlangen Live-Stream von einem Parteitag an? Viele bekommen das nicht mit, daher sind die sozialen Medien hier unerlässlich.

 

Insgesamt geht es mir aber nicht nur darum, meine Themen an die Leute zu bringen und für mich zu werben. Soziale Medien bieten auch eine tolle Möglichkeit zum Austausch und schaffen Möglichkeiten, Menschen miteinander in Kontakt und in inhaltliche Diskussionen zu bringen, die sich sonst nie getroffen hätte. Dies ist auch für mich als Abgeordnete unerlässlich, da ich als Volksvertreterin ja auch mit den Menschen im stetigen Austausch sein muss und mitbekommen will, was sie berührt und wo der Schuh drückt.

 

Sie sind in den nächsten Wochen auf Wahlkampftour. Wo können die Wähler und Wählerinnen Sie persönlich treffen?

Die Termine sind auf unserer Homepage zu finden: heike-heubach.de/termine.

 

Was gibt Ihnen Kraft in diesen herausfordernden Zeiten?

Langfristig gibt mir meine Familie Kraft und auch aus der Natur und den Bergen kann ich viel Kraft schöpfen. Kurzfristig, wenn ich z.B. alleine in Berlin bin, gehe ich oft einfach raus und spazieren an der Spree entlang am Wasser.

 

Vielen Dank für das Interview ich wünsche Ihnen ganz viel Erfolg!!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Fionn Grosse

 
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