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Experten-Interview Juli 2010



Peter Fiebinger – 100 Jahre Deutscher Gehörlosen-Sportverband!!

 

Aus diesem Anlass habe ich dessen Vizepräsidenten für Öffentlichkeitsarbeit, Peter Fiebiger interviewt.

 

Judit Nothdurft: Beginnen wir unser Gespräch mit der Gründung vor 100 Jahren. Wer hat den Deutschen Gehörlosen Sportverband (DGS) gegründet?

Peter Fiebiger: Schon vor der Gründung des Verbandes im Jahre 1910 hat es in vielen Städten Deutschlands Vereine gegeben, die sportliche Betätigung anboten. 1888 wird mit der Gründung des Berliner Taubstummen-Turnverein „Friedrich“ als Beginn des Gehörlosensportes genannt, aber schon 1882 bot man in Wuppertal-Elberfeld und 1883 in Dresden, Turnen und Kegeln an. Bis 1910, zum Gründungsjahr des Verbandes, bestanden schon über 30 Vereine deutschlandweit. Am 21. August 1910 wurde in Köln „der Verband der Taustummen-Vereine für Leibesübungen“ mit Hermann Hauboldt als erster Vorsitzende gegründet. Später wurde der Verband mehrfach umbenannt, bis hin zum heutigen Deutschen Gehörlosen-Sportverband e.V.

 

Welche wesentlichen Veränderungen gab es in diesen 100 Jahren? Wo sehen Sie die stärksten Entwicklungen?

Strukturell gab es erst 1974 eine entscheidende Änderung. Bis dahin waren die Vereine Deutschlands direktes Mitglied im Verband. Nach der bundesweiten Gründung von Landes-sportverbänden der Gehörlosen schlossen sich die Vereine in ihrem Landessportverband zusammen und der Landessportverband wurde dann Mitglied im DGS.

 

Sportlich gesehen gab es im Jahre 1926 einen wichtigen Schritt in Richtung internationaler Sport. Der damalige Verband deutscher Taubstummen- und Turnvereine wurde in den Weltverband CISS aufgenommen und 1928 nahm erstmalig eine deutsche Mannschaft an den Taubstummen-Weltspielen (später Deaflympics)in Amsterdam teil.

 

Seit 1983 ist Deutschland Mitglied der EDSO (European Deaf Sports Organisation). In der Folge gab es dann neben den Weltspielen auch Europameisterschaften. Der Leistungssport entwickelte sich dann stets nach oben. Nach und nach wurden dann auch Fachsparten innerhalb des Verbandes eingeführt.

 

Wie hat der Gehörlosensport bzw. der Verband das Dritte Reich überstanden?

Die Anfang der 30-iger beginnende Nazifizierung hat den eigentlichen Sportbetrieb der Vereine und des Verbandes nur unwesentlich behindert. Es fanden bis kurz vor dem Zusammenbruch 1945 immer noch sporadisch Meisterschaften und Sportbegegnungen statt.

 

Natürlich mussten sich der Verband bzw. seine verantwortlichen Verbands- und Vereinsführer den politischen Zwängen anpassen. Wie auch immer sich Gehörlose Sportlerinnen und Sportler im 3. Reich dazu gestellt haben, es war eine menschliche, wenn auch aus heutiger Sicht keine wirklich immer "gute" Einstellung.

Ich selbst bin im Jahre 1949 geboren, kenne also die Zeit des III. Reiches nur vom Hörensagen. Meine Eltern, beide gehörlos, waren damals auch Mitglied im GSV Braunschweig und in der Hitlerjugend oder im BDM (Bund deutscher Mädchen). Sie waren bestimmt keine Nazis und auch nicht freiwillig dort drin. Entscheidend war doch, dass der Sport im Vordergrund stand und immer noch freundschaftliche Begegnungen durchgeführt wurden.

 

Wie viele Mitglieder zählt der Verband in 2010?

Der Verband hat heute knapp 10.000 Mitglieder in ca. 150 Vereinen. Allerdings hat er auch wie viele andere Verbände mit dem Mitgliederschwund zu kämpfen. Das hat viele Gründe. Zum einen ist die Beliebtheit des Sportes in Folge zunehmender Freizeitangebote gesunken. Heute spielen Jugendliche lieber mit dem Game Boy, anstatt hart zu trainieren und sich den Anforderungen im Sport zustellen. Hinzu kommen die finanziellen und wirtschaftlichen Gründe. Viele Gehörlose leben heute am Rande des Existenzminimums. Arbeitslosigkeit, Hartz IV oder ALG II lassen kaum Spielraum für teure, sportliche Betätigung. Die Vereine müssten die Rechnung tragen und den Betroffenen entgegenkommen.

Das es immer weniger Gehörlose gibt, ist für mich nicht so vordergründig. Schwerhörige und CI-Träger gibt es genug, die auch die Bedingungen zum Gehörlosensport (55 dB) erfüllen. Man muss sie nur suchen, finden und in die Vereine holen. Das Kriterium „Gebärdensprache“ dürfte nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenn man hörgeschädigte Talente oder auch Leistungssportler finden möchte.

 

Gibt es eine Fachsparte die besonders gut aufgestellt ist?

Fachsparten unterliegen den allgemeinen Trends nach Beliebtheit und Bekanntheit. Boris Becker hat auch im Tennisbereich einen Boom ausgelöst und heute geht die Mitgliederzahl wieder zurück. Volkssport Nr. 1 bleibt natürlich der Fußball. In anderen Sparten wie Leichtathletik oder Schwimmen gibt es kaum Alterbegrenzungen. Schon mit 6 bis 8 Jahren kann man am Wettkampfbetrieb teilnehmen. Diese Sparten haben kaum Probleme.

 

Welchen Stellenwert hat der Gehörlosensport innerhalb des Behindertensports in Deutschland?

Der Gehörlosensport ist innerhalb des Behindertensportes nur ein geringer Prozentsatz. Der Deutsche Behindertensportverband hat über 500.000 Mitglieder und der DGS knapp 10.000. Doch in der öffentlichen Förderung des Leistungssportes macht unser Geldgeber, das Bundesministerium des Inneren, keinen Unterschied. Der Behindertensportverband, Special Olympics und der DGS werden auf Augenhöhe gleichwertig angesehen und auch so behandelt.

Anders sieht es bei den Medaillenprämien für die Wettbewerbe Olympische Spiele, Paralympics und Deaflympics aus. Gehörlose Sportler bekommen 900 € für eine Goldmedaille, Paralympicsteilnehmer erhalten hingegen 4.500 € und die Hörenden Olympioniken 15.000 €.

 

Die Deaflympics sind leider weitgehend unbekannt in der hörenden Welt. Die meisten Menschen denken, dass Gehörlose an den Paralympics teilnehmen….

Das ist richtig. Wir arbeiten auch verstärkt daran, dass die Deaflympics unter den Hörenden bekannter werden. Aber wie oben schon erwähnt, hat der Behindertensport eine wesentlich größere Mitgliederzahl, dementsprechend auch eine größere Lobby. Der DGS muss mit seinen bescheidenen finanziellen Mitteln ihre Öffentlichkeitsarbeit schaffen. Eine kaum lösbare Aufgabe.

Trotzdem hat der DGS bei den letzten Deaflympics 2009 in Taipeh, auf eigene Kosten (über Spenden und Sponsoren) ein 4-köpfiges Kamerateam mitgenommen und täglich Internetfernsehbeiträge angeboten. In 17 Tagen über 220.000 Besucher auf der Homepage, das war schon etwas Besonderes.

 

Wie erklären Sie, dass in den Medien so selten über den Gehörlosensport berichtet wird?

Ich meine, es ist einfach in der Historie und in der Behinderung begründet. In früheren Zeiten haben die regionalen Zeitungen auch mal etwas über den Gehörlosensport in den Vereinen geschrieben. Einfach ihrer Informationspflicht nachzukommen. Obwohl es damals ungleich schwieriger war an die hörenden Redakteure heranzukommen, teilweise ohne Dolmetscher.

 

Heute sind die Gehörlosen bzw. Hörgeschädigten viel selbstbewusster, haben viel mehr Dolmetscher, trotzdem wird sehr wenig berichtet. Doch auch die Informationsflut ist viel größer geworden. Leider hat der Sport in Deutschland nicht den Stellenwert in der Gesellschaft, wie in anderen Ländern. In den Medien kommt an erster Stelle Fußball dann nochmal und nochmal Fußball. Erst dann folgen vereinzelt Tennis und einiger Groß-veranstaltungen. Nicht nur der Gehörlosensport hat es da sehr schwer.

Anders sieht es in den Heimatzeitungen aus, hier wird sehr oft über erfolgreiche, lokale Sportlerinnen und Sportler berichtet.

 

Was könnten die Gehörlosen Sportvereine tun, um mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen?

Schwierig, die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen. Man muss ständig Kontakt zu den Redakteuren suchen, sie immer wieder einladen und auf ihre Veranstaltungen aufmerksam machen.

Um neue Mitglieder zu werben, müssen sie vermehrt den Kontakt zu den Bildungs-einrichtungen für Hörgeschädigte suchen, dort Informationsveranstaltungen machen. Aber auch über die Hörgeräteakustiker ließen sich Interessierte für den Gehörlosensport finden.

 

Wo sehen Sie die größten Schwierigkeiten, um erfolgreiche Sportler optimal fördern zu können?

Die größte Schwierigkeit ist die Kombination Beruf und Sport. Spitzensportler müssen heute täglich mehre Stunden trainieren. Die Bedingungen und Belastungen im Beruf werden immer schwieriger. Die Möglichkeiten unserer Konkurrenten in den osteuropäischen Ländern, wie Russland, Ukraine usw. werden nur Wunschtraum bleiben.

Finanziell zu fördern ist natürlich auch wichtig, denn die Wege zum optimalen Training, wie z.B. Olympia-Stützpunkte und dass mehrmals in der Woche, erhöht natürlich die Kosten.

 

In welcher Sportart haben deutsche Gehörlose die meisten internationalen Erfolge gefeiert?

Fußball ist natürlich über lange Zeit sehr erfolgreich, aber die Individualsportarten wie Schwimmen, Tennis und Sportschießen brachten sehr viele Medaillen für den DGS.

 

Erfolgreichste Sportler/In, wen können Sie hier nennen?

Hier muss man unbedingt die Leichtathletin Rita Windbrake und im Tennis Ronald-Oliver Krieg nennen, weil sie über längere Zeit sehr erfolgreich waren. Heute treten Heike Albrecht (Tennis) und Björn Koch (Schwimmen) in ihre Fußstapfen.

 

Wann und wo findet die Jubiläumsfeier statt?

Die 100Jahrfeier findet vom 9. bis 11. September 2010 in Essen statt. Die Grugahalle und der Außenbereich werden im Mittelpunkt stehen.

 

Wer kann daran teilnehmen und mit welchen Kosten ist dies verbunden?

Alle Interessierten können daran teilnehmen. Wir hoffen auf viele Besucher, die sie sich an vielen attraktiven Angeboten erfreuen können. Preislich gesehen gibt es mehrere Pakete, die auf unserer Homepage www.dgs100.de abgerufen und online bestellt werden können.

 

Welches Programm erwartet die Besucher?

Wir haben uns hier viel ausgedacht. Nicht nur feiern, sondern auch die Zukunft mit unserer Jugend soll im Blickpunkt stehen. Dazu gibt es eine FunSportMeile mit verschiedenen Sportarten. Hier kann man schnuppern und Interesse an einer Sportart gewinnen. Das DGS Museum soll die lange Tradition des Gehörlosensports dokumentieren. Mit 3 Workshops möchte der DGS neue Wege erarbeiten. Eine Gala, mit Gästen aus Politik, Wirtschaft, Sport und aus den Landessportverbänden, sowie Fachsparten soll ein weiterer Höhepunkt sein. Nicht zu vergessen, ein interessantes Fußball-Länderspiel gegen Tschechien um den Einzug in die Endrunde um die Fußball-Europameisterschaft 2011. Also für Jeden etwas!

 

Wenn Sie drei Wünsche hätten, was würden Sie dem Verband und seinen Mitgliedern für die nächsten 100 Jahre wünschen?

1. Mehr engagierte und gut ausgebildete Mitarbeiter, die ehrenamtlich die Vereine führen und die Begeisterung für den Sport neu entfachen können.

2. Mehr Aufmerksamkeit in den Medien, um vielleicht auch mehr Sponsoren aufmerksam zu machen.

3. Unseren jungen Sportlerinnen und Sportlern bessere Trainingsbedingungen, viel Motivation und einen langen Atem, um an die Weltspitze zu gelangen.

 

Vielen Dank für das Interview und auf Wiedersehen in Essen!

 

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: Peter Fiebiger

 
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