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Experten-Interview Oktober 2012



Ein Leben ohne Alkohol - genauso wertvoll!

 

Der Workshop von Diakon Walter Großmann über das Thema Alkoholkrankheit bei Hörgeschädigten war auf den Kulturtagen in Erfurt sehr gut besucht. Walter Großmann bietet auch eine Anlaufstelle für Betroffene, natürlich in Deutscher Gebärdensprache, in Baden-Württemberg.

 

Judit Nothdurft: Herr Großmann, ab wann spricht man eigentlich über Alkoholsucht? Wenn ich abends ein Bier trinke oder ein Gläschen Wein, gelte ich schon als süchtig?

Walter Großmann: Sucht ist eine krankhafte Abhängigkeit und jede Krankheit entwickelt sich. Sucht oder Abhängigkeit liegt dann vor, wenn es nicht mehr gelingt, mit dem Trinken aufzuhören. Es ist der Zwang da, trinken zu müssen. Durch regelmäßiges Trinken und die sich dadurch steigernde Alkoholmenge kann man sich an die Sucht „herantrinken“.

 

Seit 21 Jahren führen Sie mit Ihrer Frau eine Begegnungsgruppe für alkoholsüchtige Gehörlose und deren Angehörige. Was sind die Ziele dieser Gruppe und wie können Sie diese erreichen?

Das Ziel ist klar definiert: Wir wollen die Gruppenbesucher (www.diakonie-wuerttemberg.de) in ihrer Absicht unterstützen, ihr Leben in Zukunft alkoholfrei zu führen. In der Regel kommen Leute zu uns, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie mit dem Alkohol nicht klar kommen und daher ein völliger Verzicht (Abstinenz) der einzige Weg bleibt. Auf diesem Weg wollen wir begleiten, Informationen und Hintergründe zur Sucht aufzeigen und Zusammenhänge erklären. All das in einer Gruppe, in der wir sozusagen durch die Suchterfahrung  „im gleichen Boot“ sitzen. Ganz wichtig ist die Verschwiegenheit! Was wir in der Gruppe besprechen, das bleibt unter uns. Nur so kann sich Vertrauen entwickeln und offen über eigene Probleme zu sprechen. Wir wollen zeigen, dass ein Leben ohne Alkohol genauso wertvoll ist und uns gegenseitig helfen, Rückfälle – auch in alte Verhaltensweisen – zu vermeiden.

 

Alkoholismus ist in Deutschland seit 1968 durch ein Urteil des Bundessozialgerichtes als Krankheit anerkannt. Trotzdem wollen die Betroffenen darüber lieber schweigen als reden. Wie sieht es bei Ihren Gruppengesprächen aus?

Wer in die Gruppe kommt, weiß, dass unser Thema der Alkohol ist. Deshalb reden wir dort offen über die Krankheit und die Folgen. Anders ist es damit, wie die Gruppenmitglieder damit in ihrem Leben umgehen. Niemand läuft mit einem Schild um den Hals herum mit der Aufschrift: Ich bin alkoholkrank. Aber permanent wird man mit Alkohol konfrontiert. Wenn z.B. bei einem Stehempfang Sekt angeboten wird, dann muss ein Alkoholkranker ablehnen und ein alkoholfreies Getränk wählen (das hoffentlich auch angeboten wird). Er muss nicht begründen, warum er keinen Alkohol konsumieren will. Doch wer schon länger trocken (ohne Alkohol) lebt, kann im Laufe der Zeit Stärke und Selbstvertrauen entwickeln und offen zu seiner Krankheit stehen.

 

Reichen diese Treffen aus, um jemanden von der Flasche wegzuholen oder einen Rückfall zu vermeiden?

Die Gruppentreffen können unterstützend helfen, aber die Entscheidung, mit dem Trinken aufzuhören, muss jede oder jeder selbst treffen. Deshalb sprechen wir offen über die Folgen des Trinkens sowohl in der Vergangenheit als auch für die Zukunft: Was hat mir der Alkohol gegeben? Was hat er mir genommen? Was wäre, wenn ich jetzt wieder trinken würde oder zumindest versuchen würde, kontrolliert zu trinken? Was kann ich tun, wenn ich plötzlich wieder einen sog. Saufdruck verspüre? – Daher ist der Besuch der Gruppentreffen so wichtig, um Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. Im  Bedarfsfall machen wir auch Hausbesuche.

Jedes Jahr führen wir eine Seminar- und Ferienwoche durch. Diese Woche ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Sie bietet viele Erlebnisse, Begegnungen (weil auch Teilnehmer aus anderen Gruppen wie Leipzig oder Köln dabei sind) und Besinnung. Grundlage unseres Miteinanders ist das christliche Menschenbild.

Leider gibt es für Gehörlose nur wenige Begegnungsgruppen. Woher kommen Ihre Teilnehmer?

Ja, es gibt nur wenige Anlaufstellen, wo sich Hörgeschädigte mit Suchtproblemen austauschen können. Zum Beispiel gibt es solche Begegnungsgruppen wie unsere in Münchingen bei Stuttgart nur noch in Leipzig, Köln, Dortmund und seit einem Jahr eine Ablegergruppe von uns in Aalen. Das macht schon klar: wer eine solche Gruppe besuchen und Hilfe holen will, muss zum Teil lange Strecken auf sich nehmen. Einige unserer Teilnehmer haben einen Anfahrtsweg von über 100 km!

 

Die Alterspanne der Gruppenteilnehmer reicht von Mitte 30 bis Ende 60. Bedeutet es, dass sich hier „gut trainierte“ Alkoholiker treffen?

Gut trainiert würde ich nicht sagen, aber mit vielen negativen Erfahrungen. Wären die Erfahrungen positiv, bräuchte niemand zu uns in die Gruppe kommen. - Sucht entwickelt sich über viele Jahre und in der Regel wurde jahre- oder jahrzehntelang Missbrauch mit Alkohol betrieben. Wenn dann die Schwierigkeiten so groß sind, dass es nicht mehr weitergehen kann, folgt die Abmahnung im Betrieb oder Kündigung, Trennungsäußerung des Partners, Wohnungsverlust usw. – Viele unserer Teilnehmer haben eine oder mehrere Therapien gemacht und schätzen nach dieser Zeit die Treffen in unserer Gruppe.

 

Sind eigentlich Gehörlose durch Isolation mehr der Gefahr ausgesetzt, zur Flasche zu greifen?

Zuerst würde man denken: Ja klar! Aber meines Wissens ist die Quote Gehörloser im Vergleich zu Hörenden nicht gravierend höher. Wichtig ist immer, wie mit der Isolation umgegangen wird. Der Versuch, den Rückzug in die Einsamkeit und ins Selbstmitleid durch den „Seelentröster“ Alkohol zu kompensieren (=ausgleichen), ist keine Lösung. Dieser Weg wird früher oder später in der Isolation enden – auch weil sich die anderen im Laufe der Zeit von der Person abwenden: Der säuft ja nur, mit dem ist nichts anzufangen!

 

Übermäßiger Alkoholgenuss hinterlässt seine Spuren auch am Körper, äußerlich und innerlich….

Da könnte ich jetzt Seiten schreiben! Oft bleit der Alkoholmissbrauch sehr lange unentdeckt, weil die Person nach wie vor ihr Äußeres nicht vernachlässigt oder weiterhin versucht, ohne Auffälligkeiten das Leben zu bewältigen. Doch irgendwann lässt es sich nicht mehr verheimlichen und Veränderungen werden deutlich: die jedem bekannte „Fahne“, Zittern, Schwitzen, rotes oder aufgedunsenes Gesicht, der unsichere Gang, Nervosität, …. – Dass mit jedem Rausch unzählige Gehirnzellen abgetötet werden, die nicht wieder erneuert werden, möchte ich hier ebenfalls mit anführen. Viele kennen die Schädigung der Leber (Verfettung oder Schrumpfung) aufgrund des Missbrauchs, aber auch Bluthochdruck, Magenschleimhautentzündung, Schädigung der Bauchspeicheldrüse, um nur noch einige zu nennen. In der Tat: Alkoholmissbrauch ist ein Tod auf Raten.

 

Verändert diese Sucht auch die Persönlichkeit des Menschen?

Ja, ganz klar! Ein Alkoholkranker verändert sich in seinem Wesen. Er spürt die Ablehnung der anderen und ist sehr misstrauisch. Alle sind gegen ihn. Nur der Suchtstoff Alkohol hält noch zu ihm und gibt diese Wärme, die im Leben nötig ist. Die Sucht zwingt ihn zum Lügen, aber oft auch zur Angeberei, um die eigenen Schwächen und Fehler zu überdecken. Das Selbstwertgefühl liegt am Boden, doch das kann nicht offen zugegeben werden. Ausreden und Ausflüchte sind Anzeichen dafür, dass der Abhängige keine Verantwortung mehr übernimmt, sich ausweichend verhält und Konflikten aus dem Wege geht.

 

Was können eigentlich Angehörige von Alkoholikern überhaupt tun?

Sie müssen konsequent sein. Sie dürfen das Verhalten des Betroffenen und seine Krankheit nicht decken oder tragen. Wer das tut, wird als co-abhängig bezeichnet. Viele Angehörige sind Co-Abhängige und es ist  ihnen lange nicht klar, dass sie es sind. Wer den Ehepartner im Betrieb entschuldigt, weil dieser aufgrund des Trinkens nicht zur Arbeit gehen kann, ist co-abhängig. Wer die Aufgaben des Partners übernimmt, das Trinken deckt und verheimlicht, ist auch co-abhängig. Oft reagieren Angehörige erst dann, wenn auch für sie der Leidensdruck zu groß wird. Auch sie brauchen Hilfe. Daher ist es ganz gut, wenn auch Angehörige mit in die Begegnungsgruppe kommen und ihre Geschichte aufarbeiten können.

 

Welche Tipps haben Sie für Alkoholkranke?

Wer krank ist und sich noch nicht um Hilfe bemüht hat, der: soll nicht mehr warten! Er soll eine Beratungsstelle aufsuchen oder eine Person, der man sich anvertrauen kann. Jegliches Warten verlängert die Leidenszeit und erschwert den Ausstieg. Und wem schon geholfen wurde: Nicht alleine bleiben, sondern andere suchen, die die gleiche Geschichte haben. Allein fällt man schnell um, in der Gemeinschaft ist man geschützter und kann so leichter eine zufriedene Abstinenz (=Enthaltsamkeit) erreichen.

 

Leider gibt es heutzutage kaum eine Veranstaltung oder Feier ohne Alkohol. Wie können sich Menschen, die bereits „trocken“ sind, in solchen Situationen vor einem Rückfall schützen?

Wer weiß, dass eine solche Feier für ihn gefährlich werden kann, sollte am besten fernbleiben. Das ist oft am Anfang nach einer Therapie der Fall.De Gerüche, das Anstoßen und Animieren setzen einen starken Willen voraus, gegen diese Gefahren zu bestehen. Nach längerer Abstinenz kann sich eine Stabilität entwickeln, in der der Alkoholkonsum anderer nicht mehr gefährdend ist. Trotzdem muss hier jeder sehr aufmerksam und sich der Gefährdung bewusst sein. Und wo nur gesoffen wird, da wird sich auch ein Trockener nicht wohlfühlen.

 

Welche Getränke würden Sie für Veranstaltungen als Alternative empfehlen? (Rezepte)

Ganz einfach ist unserer Standardgetränk „Turtle Mix“:

Für einen Liter wird benötigt: Ein halber Liter weißer Traubensaft, 0,1 l Waldmeistersirup, etwas Zitronensaft und den Rest Mineralwasser. Das ergibt ein wunderschönes grünes Getränk, das mit ein paar Eiswürfeln prima schmeckt.

Oder mit etwas mehr Aufwand der „Palm Beach“:

2 cl Grenadinesirup, 2 cl Zitronensaft, 10 cl Ananassaft und 6 cl Maracujasaft im Glas mischen und mit ein paar Eiswürfeln servieren: Die Gäste sind begeistert und niemand wird davon einen Kater bekommen.

 

Zum Schluss erlauben Sie mir eine persönliche Frage, trinken Sie selbst Alkohol?

Nein, seit über 30 Jahren nicht mehr. Ich hatte nie Alkoholprobleme, aber nachdem ich meine Frau kennenlernte, habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Sie arbeitete im Blauen Kreuz, einer christlichen Suchthilfeorganisation, die Alkoholkranke und Angehörige in Beratungsstellen, Einrichtungen und vielen Selbsthilfegruppen unterstützt. Als Mitglied im Blauen Kreuz verzichte ich freiwillig völlig auf Alkohol. Das ist mir nicht schwer gefallen, da ich so viel gesehen und erlebt hatte, was der Alkohol an Negativem anrichtet. Und aus Solidarität mit den Alkoholkranken möchte ich auch freiwillig auf Alkohol verzichten. In der Tat: mir fehlt nichts!

 

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild: Walter Großmann

 

 
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