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Experten-Interview September 2014



Helmut Vogel – der neue Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes

 

Am 05.07.2014 wurde das neue Präsidium des Deutschen Gehörlosen-Bundes gewählt. Die Wahl war fast so geheimnisvoll, wie eine Papstwahl. Hier stieg aber kein weißer Rauch aus dem Schornstein auf, sondern in Facebook wurde fleißig gepostet.

 

Herr Vogel herzlichen Glückwusch erst mal zu Ihrer Präsidentenwahl!

Wie haben Sie die Wahl erlebt?

Helmut Vogel: Es war eine spannende Wahl um das Amt des Präsidenten. Für viele Delegierte war es eine Überraschung, dass sich drei Präsidentschaftskandidaten zur Wahl gestellt hatten. Bis dahin war ihnen und den vielen Interessierten, die die Entwicklung des DGB mitverfolgt haben, nur die Bereitschaft von Ralph Raule bekannt.

Ich habe Zeit gebraucht, für mich zu klären, ob ich als Präsident kandidieren sollte. Die Entscheidung ist erst morgens am Wahltag gefallen. Die Delegierten der Mitgliedsverbände sollten Alternativen haben, wem sie ihre Stimme geben. Da es derzeit eine schwierige Zeit für den Deutschen Gehörlosen-Bund ist, halte ich es im Nachhinein für gut, dass es drei Präsidentschaftskandidaten gab.

So ist die Wahl recht knapp ausgegangen. Frank Köllen wurde zum 2. Vizepräsidenten, Michael Wohlfahrt zum Schatzmeister und Daniel Büter zum Beisitzer gewählt. Die Drei haben durch ihr Studium und ihre beruflichen Erfahrungen verschiedene Kompetenzen erworben. Conny Tiedemann, Vorsitzende der Deutschen Gehörlosen-Jugend, wurde entsprechend der Satzung des DGB als weitere Besitzerin miteinbezogen, ohne von der Bundesversammlung gewählt zu werden. So ist insgesamt gesehen die Wahl bei der außerordentlichen Bundesversammlung in Chemnitz natürlich überraschend, jedoch ganz gut verlaufen.

 

Welche Pläne haben Sie für Ihre Amtszeit?

Da ich seit 2001 als Vorsitzender der Bundesvereinigung für Kultur und Geschichte Gehörloser wirke, habe ich die Modernisierung dieses Fachverbandes mit den inzwischen gegründeten Abteilungen eingeleitet. Diese Erfahrung war für mich positiv. Als Delegierter erlebte ich seit 2001 die Aufs und Abs des Deutschen Gehörlosen-Bundes mit und kenne diverse Probleme in verschiedenen Bereichen.

Für die nächsten vier Jahre möchte ich die Zusammenarbeit des DGB mit den Mitgliedsverbänden vertiefen und weiter entwickeln. Für die Landesverbände als ordentliche Mitglieder und die Fachverbände als außerordentliche Mitglieder sollte es vermehrt Gelegenheiten zur Beteiligung in den dafür einzuberufenden Ressorts geben. So können die Referenten aus den Mitgliedsverbänden ihre Vorstellungen in diese Ressorts einbringen, miteinander teilen und ihre politische Arbeit optimieren.

Behindertenpolitik ist in vielen Bereichen insbesondere auf der Landesebene zu machen, da Deutschland nach dem Föderalismusprinzip aufgebaut ist. Darüber wird jedes Jahr auf der Bundesversammlung der Bericht von den „Sprechern“ der diversen Ressorts vorgelegt. Das wird uns, das Präsidium und die Mitgliedsverbände, in den nächsten Jahren begleiten. Ich glaube, dass diese neue Form von Vorteil für die Mitgliedsverbände und die Gebärdensprachgemeinschaft sein wird.

 

Was möchten Sie unbedingt verbessern?

Neben der oben beschriebenen Vertiefung sollten wir erreichen, dass sich die „Sprecher“ für ihre Ressorts für die Vernetzung mit anderen Organisationen und Institutionen einsetzen. In der Politik von heute ist Vernetzung auf kommunaler, landesweiter und bundesweiter Ebene gefragt, nicht zuletzt im europäischen und weltweiten Bereich. Der Deutsche Gehörlosen-Bund ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten, der BAG Selbsthilfe, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Deutschen Behindertenrat. Nicht zuletzt ist der DGB in der Europäischen Union der Gehörlosen (EUD) und dem Weltverband der Gehörlosen (WFD) als Mitglied vernetzt. Durch die teils jahrzehntelange Vernetzung ergeben sich selbstverständlich Möglichkeiten für die Verantwortlichen und Ansprechpartner des DGB, indem sie an diversen politischen Gesprächen und Veranstaltungen teilnehmen und sich für ihre Interessen einsetzen. Dadurch betreiben wir kontinuierlich (=ständig) den Austausch mit diversen Organisationen und Institutionen. Auf diesem Wege erhoffe ich mir ein Vorwärtskommen für unsere Interessen.

 

Ihr Vorgänger, Rudi Sailer hat sich stark für das Thema Bildung engagiert. Was liegt Ihnen besonders am Herzen?

Neben der politischen Arbeit sollten wir das Bundeskompetenzzentrum (BKZ) fortführen und nachhaltig gestalten. Dessen Betrieb mit vier hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat unter dem vorherigen Präsidium von Rudolf Sailer im April 2014 begonnen. Der Antrag bei der Aktion Mensch ist ungewöhnlich schnell bewilligt worden. Dadurch wird das Bundeskompetenzzentrum für drei Jahre von der Aktion Mensch zu einem großen Teil finanziert. Den hohen Bedarf hat die Jury der Aktion Mensch wohl gesehen. Mit dem Bundeskompetenzzentrum sind die Förderung der Selbsthilfe, die Verhinderung der Diskriminierungsfälle, Verbraucherschutz und juristische Beratung verbunden. Die Mitarbeiter können Aufklärungsarbeit und Beratung vor Ort und/oder über Webcam anbieten. Sie können Beratung für die politische Arbeit seitens des Präsidiums und der Mitgliedsverbände leisten. Daher kann das Bundeskompetenzzentrum eine wichtige Unterstützung für die Mitgliedsverbände und die einzelnen betroffenen gebärdensprachigen Gehörlosen und Schwerhörigen sein.

Jedoch ist die Finanzierung aus Eigenmitteln noch nicht hinreichend geklärt. Eine finanzielle Absicherung dieses Zentrums in den kommenden drei Jahren ist nur mit der Unterstützung durch die Mitgliedsverbände und Sponsoren möglich. Es bleibt abzuwarten, ob wir trotz der schwierigen Zeit diese Chance nutzen können.

 

Wie werden die einzelnen Bereiche innerhalb des Präsidiums personell besetzt?

Als Präsident kommt mir überwiegend die Repräsentations- und Koordinierungsaufgabe zu. Frank Köllen, der vor kurzem den Master-Abschluss in Steuern und Wirtschaftsprüfung absolviert hat und Michael Wohlfahrt, ein staatlich geprüfter Betriebswirt, konzentrieren sich überwiegend auf die finanziellen Themen. Wir drei regeln die Arbeiten mit den Mitarbeitern des Bundeskompetenzzentrums, kommunizieren viel zusammen und arbeiten, die vor uns liegenden Aufgaben ab. Daniel Büter und Conny Tiedemann arbeiten dem Präsidium bei bestimmten Aufgaben zu.

 

Zwei Posten sind noch vakant, diese sollen von Frauen besetzt werden. Auch hierzu gab es in Facebook bereits Vorschläge…. Welche Bereiche sind für Frauen gedacht?

Als 1. Vizepräsidentin sollte eine Frau die Repräsentationsaufgabe ebenso übernehmen und sich an der finanziellen Thematik mitbeteiligen. Eine weitere Frau sollte als Beisitzerin mit bestimmten Aufgaben betraut werden und dem Präsidium zuarbeiten. Hoffentlich wird die Vollbesetzung des Präsidiums bei der ordentlichen Bundesversammlung vom 28.-30. November in Braunschweig erfolgreich sein.

 

Es kursieren nach wie vor Gerüchte über verschiedene Summen, die in der Kasse fehlen. Wie ist momentan die finanzielle Situation des DGB? Wurde schon eine genaue Bestandsaufnahme gemacht?

Trotz intensiver Aufarbeitung der Finanzen haben wir immer noch keinen vollständigen Überblick über die finanzielle Situation. Wir verschaffen uns gerade einen Überblick über die konkrete Höhe der Verbindlichkeiten. Inzwischen haben wir verschiedene Unterlagen aus der Zeit des vorherigen Präsidiums bekommen, müssen diese aber erst einmal abschließend sichten und ordnen. Dies gestaltet sich schwieriger als zunächst gedacht. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei darauf, dass die Liste der Gläubiger konkret erstellt wird und wir mit ihnen Kontakt aufnehmen.

Wir haben uns außerdem entschieden, dass die Jahresabschlüsse seit 2011 nochmals neu aufzusetzen sind. Dabei werden wir die Einnahmen und Ausgaben des DGB verschiedenen Sphären (=Gebieten) zuordnen. Diese Sphäreneinteilung wird nach folgenden Bereichen vorgenommen: ideeller Bereich, Vermögensverwaltung, Zweckbetrieb und steuerpflichtiger wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb. Das hatte der vorherige geschäftsführende Vorstand mit seinen Steuerberatern nicht getan. Wir haben inzwischen einen Steuerberater, der im Gemeinnützigkeitsrecht spezialisiert ist, beauftragt, für uns tätig zu werden. Mit ihm werden wir versuchen, bis Ende November einen Bericht bei der ordentlichen Bundesversammlung vorzulegen. Aus den neuen Jahresabschlüssen können wir ersehen, in welchen Bereichen die Schulden gemacht wurden. Damit bekommen wir die, von den Mitgliedsverbänden geforderte Transparenz. Wir können sehen, warum sich der DGB in der derzeitigen Situation befindet. Diese Fehler darf der DGB nicht wiederholen.

 

Welche Lösungsmöglichkeiten stehen dem DGB zur Verfügung, um wieder schwarze Zahlen zu schreiben?

Ziel ist es, in einem ersten Schritt etwaige Insolvenzantragspflichten von Anfang an auszuschließen, um in einem zweiten Schritt entsprechende Restrukturierungsmaßnahmen umsetzen zu können. Über die verschiedenen Möglichkeiten im zweiten Schritt werden wir uns mit den Vorständen der Mitgliedsverbände kontinuierlich beraten und ein Gesamtpaket mit ihnen schnüren. Es ist dabei noch etwas zu früh für konkrete Vorschläge. Die Möglichkeiten werden uns vom Präsidium in den nächsten Wochen aber stark beschäftigen. Das Restrukturierungskonzept und den Schuldentilgungsplan werden wir bis zur Bundesversammlung auch ausarbeiten. Dann hätte die Bundesversammlung einen Ausblick auf die nächsten vier Jahre, also in meiner Amtszeit bis 2018, wie der DGB dauerhaft schwarze Zahlen schreiben kann.

 

Kann der DGB große Veranstaltungen, wie z.B. die Kulturtage 2016 finanzieren?

Solange die finanzielle Situation nicht geklärt werden kann, bleibt offen, wie es mit den Kulturtagen 2016 aussieht. Jedenfalls sind große Veranstaltungen, wie die bisherigen fünf Kulturtage, für den DGB nicht einfach zu finanzieren, denn der DGB besitzt praktisch so gut wie kein Anlagevermögen. Die Sicherheit für den DGB entfällt somit.

Bei den Kulturtagen 2012 in Erfurt waren über 500.000 Euro bei den Ausgaben und Einnahmen im Umlauf. Wenn das Controlling strikt und konsequent eingesetzt wird, wäre das kein Problem. Aber das klappt ja nicht immer, wie es zwei Kulturtage gezeigt haben. Darüber muss sich die Bundesversammlung ernsthaft Gedanken machen, wie sie in Zukunft damit umgehen will.

 

Welche Erwartungen haben Sie an die Bundesregierung, insbesondere mit Blick auf die Umsetzung von Inklusion und Teilhabegeld?

Die Inklusion wird heute immer mehr von den politisch Verantwortlichen und der Zivilgesellschaft erwähnt. Es ist eine erfreuliche Entwicklung seit der Inkraftsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland vor fünf Jahren. Jedoch gilt es manchmal hinzuschauen, was genau mit Inklusion gemeint ist.

In der Tat ist das Mitbestimmungsrecht Menschen mit Behinderungen immer wieder vorenthalten worden. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist ein gesellschaftliches Problem. Gemeinsam daran zu arbeiten und das zu ändern, ist ein Fortschritt in Richtung Inklusion. Von Anfang an sollen Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen dabei sein und mitreden bzw. mitgebärden. Die Gebärdensprache soll nicht nur bei den Sozialleistungsträgern, wie es bisher der Fall ist, sondern auch in politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen verwendet werden. In diesem Zusammenhang steht im Koalitionsvertrag der großen Koalition geschrieben, dass das Bundesteilhabegesetz in der aktuellen Legislaturperiode, also zwischen 2013 und 2017 verabschiedet werden soll. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat dazu eine Arbeitsgruppe aus verschiedenen Betroffenenverbänden und Spitzenvertretern der bundesweiten und landesweiten öffentlichen Einrichtungen gegründet. Der DGB und der Deutsche Schwerhörigenbund sind über die Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten in der Arbeitsgruppe dabei. Der Deutsche Behindertenrat (DBR) hat in einer gemeinsamen Stellungnahme rechtzeitig klargestellt, dass sich die Arbeitsgruppe nicht zu sehr auf den Fiskalpakt konzentrieren, sondern auch den politischen Willen für die Mitbestimmung und Gleichberechtigung bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention zeigen sollte.

 

Das Amt des Präsidenten bringt sehr viele Termine mit sich, bei denen Sie immer präsent sein müssen. Werden Sie jetzt beruflich kürzer treten oder….

Bei den Überlegungen, ob ich als Präsident kandidieren sollte, hat die Frage, wie ich die ehrenamtliche Arbeit mit meiner beruflichen Tätigkeit vereinbaren könnte, eine wichtige Rolle gespielt.

Seit 2009 bin ich der Inhaber des Geschichtsbüros „Deaf History Now“ und mache diverse Projekte. Es bleibt mein Lebensziel, dass die Forschungen zur deutschen Gehörlosengeschichte in der Forschungslandschaft - auch auf Hochschulebene - etabliert werden. Nach Gesprächen mit diversen Gesprächspartnern, die sich mit den Vorgängen im DGB auskennen, habe ich in reiflichen Überlegungen ein Gesamtkonzept entwickeln können, damit der DGB möglichst gut aufgestellt ist. Deswegen bleibt meine Hoffnung, dass ich meinen beruflichen Arbeitsumfang nicht so stark einschränken muss, abgesehen von ersten schwierigen Monaten nach der Amtsübernahme.

 

Was dürfen unsere Leser noch über Sie wissen?

Die sieben Studienjahre mit dem Abschluss des Magistertitels waren ganz wichtig für mich. Das erfolgreiche Studium der Erziehungswissenschaft, Geschichte und Gebärdensprache hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben. Bis heute habe ich acht Jahre als Freiberufler und fünf Jahre im Gehörlosenverband Hamburg und beim Gebärdenwerk gearbeitet. Ich bin dankbar für diese Zeiten, in denen mir Chancen gegeben worden sind.

Nach den ersten zwanzig Jahren in München habe ich in den Städten Essen, Hamburg, Wien und Frankfurt am Main gelebt. In Frankfurt lebe ich seit fünf Jahren mit meiner Frau zusammen. Mir hat es auch immer wieder Freude gemacht, wenn ich zu verschiedenen Vereinen, Verbänden und Einrichtungen der Gehörlosen und Gebärdensprachnutzer in Deutschland gekommen bin und dort diverse Vorträge usw. gehalten habe.

Nun wird es eine ganz neue Erfahrung für mich mit dem Amt des Präsidenten des Deutschen Gehörlosen-Bundes. Ich hoffe, dass die gehörlosen und gebärdensprachigen Menschen in Krisenzeiten wieder gut zusammenhalten können. Es gab schon positive Erfahrungen in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass uns das diesmal auch wieder gelingt. Daher brauchen wir jetzt schon ihre Unterstützung, damit wir diese Zeiten gemeinsam durchstehen und am Ende daraus gestärkt hervorgehen können.

 

Vielen Dank für das Interview!

Text: Judit Nothdurft

Bild: Benedikt J. Feldmann

 

 
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