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Experten-Interview Dezember 2014



Kraemer-orig.jpgBei den meisten angezeigten Vergewaltigungen kannten sich Täter und Opfer schon vorher!

 

In Nürnberg startete im November ein Selbstverteidigungskurs speziell für gehörlose Frauen. Hier haben die Teilnehmer wichtige praktische und theoretische Informationen in Gebärdensprache erhalten. Hauptkommissarin Heike Krämer gab ihnen wichtige Verhaltenstipps.

 

Frau Krämer, Sie sind Kriminalhauptkommissarin und Beauftragte für Frauen und Kinder des Polizeipräsidiums Mittelfranken. In welchen Hauptbereichen und zu welchen Themen beraten Sie Frauen?

Heike Krämer: Die Funktion der Beauftragten der Polizei für Frauen und Kinder gibt es bei jedem Polizeipräsidium in Bayern. Wir beraten in den Themenfeldern sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch von Kindern, Misshandlung von Kindern, häusliche Gewalt, Gewalt im sozialen Nahbereich und Stalking.

Wir beraten nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die entweder bereits Opfer wurden oder geben Verhaltenstipps, damit sie keine Opfer werden.

 

Bleibt es bei der Beratung oder ermitteln Sie auch gleich gegen den Täter?

Als Polizeibeamtin habe ich ein sogenanntes Legalitätsprinzip. Das bedeutet, wenn ich in der Beratung von Straftaten erfahre, muss ich grundsätzlich von Amts wegen (=offiziell) ermitteln. Als Beauftragte der Polizei für Frauen und Kindern informiere ich die zuständige Polizeidienststelle vom Vorliegen des Anfangsverdachtes einer Straftat. Die Sachbearbeitung wird von den Beamten der Schutz- oder Kriminalpolizeidienststellen übernommen. Da ich im Opferschutz tätig bin, führe ich selbst keine Ermittlungen gegen den Täter durch.

 

Wie sieht es mit der Schweigepflicht aus?

Wir sind als Polizeibeamte gesetzlich verpflichtet, Straftaten aufzuklären und Gefahren abzuwehren. Wir haben keine Schweigepflicht, sondern müssen einzelfallbezogen andere Behörden oder Institutionen vom Beratungsinhalt informieren (z. B. Staatsanwaltschaft, Jugendamt)

 

Welche Formen hat sexuelle Gewalt?

Anzügliche Blicke, Beleidigungen sexuelle motiviert, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz können bereits Formen von sexueller Gewalt darstellen, ebenso sexuelle Handlungen unter Anwendung von Drohungen, Zwang oder Gewalt.

 

Wann spricht man über sexuelle Misshandlung und wann über sexuelle Belästigung?

Sexueller Missbrauch ist eine Form der Misshandlung. Es gibt verschiedene Tatbestände des sexuellen Missbrauchs beispielweise an Kindern, Jugendlichen, Widerstandunfähigen.

 

Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wird sexuelle Belästigung als „unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten“ beschrieben, das die Würde der Betroffenen verletzt. Das Strafgesetzbuch selbst kennt den Tatbestand „sexuelle Belästigung“ nicht. Es kann trotzdem strafbar sein, beispielweise als Beleidigung mit sexuellem Hintergrund, wenn sich eine Person durch ein grenzverletzendes sexuell bestimmtes Verhalten (z. B. durch „angrapschen“) in der Ehre gekränkt fühlt. Die Beleidigung wird nur auf Antrag der Geschädigten verfolgt. Sexuelle Handlungen unter Anwendung von Gewalt, Drohungen und Zwang sind grundsätzlich strafbar!

 

Wie soll eine Frau handeln, wenn sie z.B. am Arbeitsplatz belästigt wird?

Sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz sind Machtdemonstrationen. Sexuelle Belästigungen verletzen die Würde der Betroffenen und schaffen ein negatives Arbeitsumfeld. Von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz sind nach Studien des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Studie des BMJFFG von 1991 und Gender Datenreport 2005) in der Regel Frauen betroffen.

 

Das AGG gibt rechtliche Informationen, zeigt Handlungsmöglichkeiten und Rechte der Betroffenen auf, sowie Pflichten und Maßnahmen der Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin.

 

Betroffene von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sollen grundsätzlich:

 

  • deutlich und unmissverständlich die Grenzen setzen und sagen was sie stört
  • Transparenz schaffen
  • Beratung suchen, z.B. bei Gleichstellungs-, Frauenbeauftragten, Beauftragte der Polizei für Frauen und Kinder
  • Einbinden und informieren der Vorgesetzten, Personalverantwortlichen, beim Personalbetriebsrat, u.a. (Wahrnehmen des Beschwerderechtes)
  • dokumentieren die Vorfälle und Beweismittel sammeln (z. B. Archivierung von Emails)
  • Rechtliche Möglichkeiten in Anspruch nehmen (z. B. Leistungsverweigerungsrecht, Strafanzeige)

 

Wo lauern die größten Gefahren für Frauen?

Die alltägliche Gewalt gegen Frauen findet vor allem in Familie- und Partnerschaft statt. Das gilt für alle Gesellschaftsschichten und jedes Lebensalter.

 

Was zeigen die Statistiken, wer sind die Täter?

Bei etwa 2/3 aller angezeigten Vergewaltigungen kannten sich die Täter und Opfer bereits mehr oder weniger gut. Wesentlich seltener sind sexuelle Gewalttaten durch völlig fremde Männer.

 

Spielt die Bekleidung wie z.B. ein tiefer Ausschnitt oder das Aussehen bei Vergewaltigungen eine Rolle? Werden die Täter davon motiviert?

Die Kleidung, beispielweise ein tiefer Ausschnitt oder ein Minirock, sind kein Grund für eine Vergewaltigung. Es kann jede Frau unabhängig von ihrem Aussehen betroffen sein.

 

Wie reagiert man richtig, wenn man ungewollt angefasst wird?

Ich gehe davon aus, Sie meinen mit „ungewollte anfassen“, ein grenzüberschreitendes sexuell motiviertes Verhalten. Sofern dieses in Öffentlichkeit passiert, sollte die gehörlose Frau grundsätzlich

  • ein selbstsicheres Auftreten durch aufrechte Haltung und Blickkontakt zeigen
  • Grenzen deutlich und unmissverständlich setzen, Übergriffe laut benennen, falls sie sich artikulieren kann (z. B. Fassen Sie mich nicht an, Stop- das will ich nicht!) oder mit einer klaren Gestik „Stop“ signalisieren
  • Sich direkt an Hilfspersonen wenden und mit Gestik oder mittels Nachricht auf dem Handy versuchen Situation zu beschreiben
  • Den Täter aus dem Konzept bringen, beispielsweise durch Schrei oder Schrillalarm und Fluchtmöglichkeit nutzen
  • Fluchtregel der 3 L (Licht - Lärm - Leute) beachten, da dort am ehesten Hilfe zu erwarten ist (z. B. Geschäft, Tankstelle)
  • Körperliche Gegenwehr immer konsequent und mit ganzer Kraft ausüben, ggf. unter Zuhilfenahme von Gegenständen wie Schlüssel, Schirm, Tasche
  • Polizei verständigen mittels SMS

 

Finden die Angriffe im privaten Bereich statt, ebenfalls

  • klar und unmissverständlich Grenzen setzen
  • die Frauen haben zu jedem Zeitpunkt das Recht, entschieden und deutlich NEIN zu sagen: Je früher und klarer die Frauen das tun, um so seltener wird es zu Missverständnissen kommen
  • sich Beratung und Hilfe holen
  • in einer akuten Gefahrensituation die Polizei per SMS verständigen
  • versuchen aus der Gefahrensituation herauszukommen, zu flüchten

 

Welche Form der Gegenwehr im privaten Bereich möglich ist, müssen die Frauen selbst entscheiden. Diese Entscheidung hängt z. B. davon ab, ob die Frau

  • in der Lage ist, sich körperlich zur Wehr zu setzen
  • gefasst genug ist, den Täter durch Reden und Fragen abzulenken
  • Hilfe erwarten kann, z. B. sich traut die Fluchtmöglichkeit zu nutzen, die Nachbarn zuhause sind und die Türe öffnen

Wenn Gegenwehr ausgeübt wird, diese immer konsequent (=entschlossen) und mit aller Kraft ausüben!

 

Weitere Tipps für den privaten Bereich:

 

  • Nach einer Trennung: den Täter nicht in die Wohnung lassen
  • Eine „letzte Aussprache“ nur in Begleitung Dritter und an öffentlichen Orten, z. B. Café führen
  • Absprachen mit Nachbarn treffen, damit der Täter nicht ins Haus gelassen wird (ggf. Hausverbot über Hausverwaltung oder Eigentümer erwirken)
  • An Schlosswechsel denken, insbesondere Haustüre, Wohnungstüre, Garage, Auto
  • Türen und Fenster durch zusätzliche Sicherungseinrichtungen wie Sperrkette sichern (technische Beratung durch den kriminalpolizeilichen Fachberater mit Gebärdendolmetscher ggfs. in Anspruch nehmen)
  • Falls Adresse dem Täter nicht bekannt ist: Sperrvermerke, z. B. beim Einwohnermeldeamt beantragen
  • Den Beauftragten der Polizei für Frauen und Kinder über das Kontaktformular der Bayerischen Polizei im Internet kontaktieren. Emailadresse, Wohnortadresse angeben und den Hinweis, dass Sie gehörlos sind
  • Im Notfall die Polizei über SMS verständigen (Nummer siehe unten)

 

Wie soll sich eine Frau verhalten, wenn sie merkt, dass sie beobachtet oder sogar verfolgt wird?

Die gehörlose Frau soll nach den oben genannten Verhaltenstipps vorgehen. Zusätzlich sollte das Handy immer griffbereit sein. Sie sollte ein Handytelefonat im Gehen simulieren (=vortäuschen) oder tatsächlich führen.

 

Es ist sinnvoll, sich einen Text bereits vorzuformulieren für Notsituationen, aus dem hervorgeht, dass sie gehörlos ist.

 

Was halten Sie vom Einsatz von Pfefferspray?

Nur das Tierabwehrschutzspray ist ohne Altersbeschränkung erlaubnisfrei.

Das Pfefferspray wirkt nur bei gezieltem Einsatz gegen Schleimhäute. Es kann in geschlossenen Räumen und im Freien verwendet werden. Die Anwendung sollte geübt sein.

 

Wie verhält man sich richtig als Opfer von sexueller Gewalt?

Die psychische Belastung nach einer sexuellen Gewalttat ist für die Opfer sehr groß. Trotzdem rate ich zu einer sofortigen Strafanzeige bei der Polizei. Die Wahrscheinlichkeit ist dann sehr viel höher, dass der Täter überführt und bestraft wird. Wenn uns der Tat bekannt ist, können wir auch Opferschutzmaßnahmen durchführen.

Die Frau sollte sich nach der Tat nicht duschen und umziehen!

 

Ablauf:

  • kurze Tatschilderung bei der Schutzpolizei
  • anschließend eine ausführliche Vernehmung durch die Kriminalpolizei. Hierzu wird grundsätzlich ein Gebärdendolmetscher hinzugezogen
  • ärztliche Untersuchung zur Beweismittelsicherung

 

Die Strafanzeige bei einer schweren sexuellen Gewalttat (z. B. Vergewaltigung) kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

 

Wenn die Frau nicht sofort Strafanzeige erstatten will, sollte sie

  • Beweisstücke aufbewahren (z. B. Bekleidung, Wäsche, Bettlaken oder andere Gegenstände, mit denen der Täter in Berührung gekommen ist. Diese nicht waschen, nichts verändern!
  • Den Tatort fotografieren
  • Notizen über den Tathergang machen
  • Arzt / Ärztin aufsuchen (über die Opferhilfeeinrichtung Weißen Ring kann das Opfer in Mittelfranken ein Untersuchungsscheck für eine beweiskräftige Sicherstellung möglicher Spuren erhalten)

 

Wo und wie können gehörlose Frauen Hilfe von der Polizei bekommen?

Gehörlose Frauen sollten sich an die Polizei mittels SMS wenden.

2012 wurde vom AK II „Innere Sicherheit“ der Beschluss gefasst, dass für Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung eine Nothilfe-Kommunikation über SMS zu prüfen ist.

Der Betroffene kann unterwegs eine SMS senden, diese wird über einen Fax-Server des Providers zum Fax umgewandelt wird.

 

Die Rufnummer für Hör- und Sprachbehinderte besteht aus drei Teilbereichen:

1. Fax-Dienstnummer des Providers des Betroffenen

2. Vorwahl der örtlich zuständigen Einsatzzentrale

3. Amtsnummer

 

Nummer des Providers für:

  • Telekom:        99
  • Vodaphone:    99
  • E-Plus:            1551
  • O2/Telefonica: 329

 

Einsatzzentrale Ort Vorwahl mit Amtsrufnummer

PP München München           089 19294

PP OBS Rosenheim               08031 3045976

PP OBN Ingolstadt                  0841 1294499

PP SSW Kempten                  0831 5757975

PP SWN Augsburg                 0821 19294

PP Niederbayern Straubing    09421 1887852

PP OPF Regensburg              0941 19294

PP UFR Würzburg                  0931 19294

PP OBF Bayreuth                   0921 19294

PP MFR Nürnberg                  0911 19294

 

Beispielsituation: Eine gehörlose Frau ist in der Altstadt von Nürnberg unterwegs und benötigt polizeiliche Hilfe. Sie hat ein handelsübliches Mobiltelefon mit einem Standardvertrag bei E-Plus. Um die Einsatzzentrale Mittelfranken zu kontaktieren, muss sie folgende Ziffernkombination wählen:

Provider

Vorwahl

Amtsnummer

1551

0911

19294

 

Im Text soll sie u. a. ihren Standort, Namen, Anliegen, der Polizei mitteilen. Die SMS ist kostenpflichtig.

 

Eine SMS direkt an den Notruf zu versenden, ist in Bayern noch nicht möglich.

 

Leider wird häusliche Gewalt oft von Frauen wegen der Kinder ertragen. Wie weit werden Kinder in ihrer Entwicklung davon beeinflusst?

Wenn Kinder und Jugendliche wiederholt ernste physische und psychische Gewalthandlungen gegen ihre Bezugspersonen (meistens die Mutter) erlebt haben, die von deren Beziehungspartner verursacht wurden, werden sie ebenfalls indirekt misshandelt.

 

Zusätzlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass bei Vorliegen häuslicher Gewalt den Kindern direkt Gewalt angetan wird.

Kinder, die häusliche Gewalt erleben, sind darauf angewiesen von außen Schutz und Unterstützung zu erhalten. Die Verantwortung für den Schutz der Kinder kann nicht allein von dem misshandelnden Elternteil getragen werden. Dieses ist selbst Opfer von Gewalt und kann den eigenen Schutz nicht sicherstellen.

 

Einzelne Studien aus England zeigen, dass bei 30 - 50 Prozent der Fälle, in denen die Mutter misshandelt wurde, war mindestens ein Kind ebenfalls vom Partner/ Vater körperlich misshandelt worden oder hat sexuelle Übergriffe erlebt. 75 Prozent der Kinder hatten Misshandlungen der Mutter miterlebt und 66 Prozent mitgehört. (vgl. Kavemann, 2000).

 

Den Kindern werden keine anderen Handlungsstrategien aufgezeigt. Zu einem hohen Prozentanteil werden die Mädchen später wieder Opfer einer Gewaltbeziehung, die Jungen zu Tätern.

 

Was sind die wirklichen Gründe und die Erklärung für häusliche Gewalt? Gibt es hierfür Therapiemöglichkeiten?

Die Ursachen für die Ausübung von häuslicher Gewalt können sehr vielfältig sein, beispielsweise

  • mangelnde Fähigkeit Konflikte friedlich zu lösen
  • Eifersucht
  • Alkohol, Drogen
  • Alltagsbelastungen
  • Unzureichende Wohnverhältnisse
  • Gewalterfahrungen als Kind
  • Traditionell geprägtes Rollenverständnis

 

Täterarbeit ist auch ein wichtiger Bestandteil des Opferschutzes. Erst wenn die Täter die Ursache für die Gewalt erkennen und andere Handlungsmuster erlernen können, wird die Gefahr für die Frau minimiert.

Es können mehrere Ursachen zeitgleich zutreffen. Daher sind die Therapieansätze auch individuell. Sofern eine Alkohol- / Drogenabhängigkeit besteht, ist wichtig, erst die Suchtproblematik beheben und dann eine weitere Therapieform wählen.

 

Vielen Dank für das Interview!

Text: Judit Nothdurft

Bild: Heike Krämer

 

 
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