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Experten-Interview Oktober 2015



TV Kultsendung „Sehen statt Hören“ - ab 2016 ohne WDR Unterstützung

 

Die Sendung „Sehen statt Hören“(SsH) feiert dieses Jahr 40-Jähriges Jubiläum, doch statt eine große Geburtstagsparty kursiert die Nachricht, der WDR will aus der gemeinsamen Produktion mit dem BR aussteigen.

Über die Hintergründe und Fakten habe ich Maria Dickmeis, Leiterin der WDR Programmgruppe Religion und Bildung, und Isabel Wiemer, verantwortliche Redakteurin/BR, interviewt.

 

Frau Dickmeis stimmt die Nachricht, dass der WDR sich an der Produktion von „Sehen statt Hören“ nicht mehr beteiligen möchte?

Maria Dickmeis: Ja.

 

Ab wann ist der Ausstieg geplant?

2016 sind wir finanziell nicht mehr dabei, wir werden aber nach jetzigem Stand weiterhin „Sehen statt Hören“ am Samstagmorgen im WDR Fernsehen ausstrahlen. Für die Zielgruppe ändert sich also nichts. Der Ausstieg ist eine rein senderinterne Entscheidung, um neue inklusive Projekte möglich zu machen.

 

Wie war der WDR bisher in die Produktion involviert und was sind die genauen Gründe für diese überraschende Entscheidung?

Das war keine kurzfristige Entscheidung, sondern eine sehr genau durchdachte und seit zwei Jahren dem Ko-Partner angekündigte.

Wir sind 2003 in die Sendung „Sehen statt Hören“ mit etwa 6,5 % Kostenbeteiligung eingestiegen und haben jährlich ca. 47 Magazine ausgestrahlt. Damals gab es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum Angebote für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen. Es waren nur wenige Sendungen untertitelt, das war der Grund für unser Engagement.

 

Mittlerweile gibt es gesetzlich verpflichtende Vorgaben hinsichtlich Inklusion in Schule und Gesellschaft. Das Ziel, ist die vollständige Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten – so wie es auch die Interessenverbände seit langem berechtigterweise fordern.

Deshalb haben wir vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit Professor Bosse von der Universität Dortmund begonnen, Kriterien und Umsetzungsmöglichkeiten für inklusive Film-Angebote zu entwickeln, die mehr bieten als reine Videountertitel.

Das dafür notwenige Budget für die Entwicklung und Umsetzung konnte nur durch finanzielle Umverteilung erfolgen. Grund dafür ist die die Stagnation bei den Rundfunkbeiträgen.

 

Heute sind wir einen großen Schritt weiter hinsichtlich inklusiver Angebote. Stichworte sind hier: Barrierefreiheit, einfache Sprache, andere Bilddramaturgie und selbstverständlich: Untertitel.

Zusammen mit unserem Ko-Partner SWR gestalten wir jetzt nach und nach unsere neuen Produktionen für den Bereich Schule und Bildung. So können endlich auch Kinder und Jugendliche mit Handikap die gleichen Filmangebote in der Schule nutzen wie Menschen ohne Einschränkungen.

Von der Videountertitelung profitieren übrigens nicht nur junge Menschen, denn wir untertiteln Kurzfassungen großer Dokumentationen des WDR ebenso wie die Einspieler von „Quarks und Co“. 500 Filme mit Untertiteln sind mittlerweile unter www.planet-schule.de zeitunabhängig abrufbar.

Die Entscheidung für die andere Nutzung unserer WDR Programmgelder hat also zu einem qualitativ (=betrifft die Qualität) und quantitativ (=betrifft die Menge) größeren Zuschauer-Angebot für die Zielgruppe geführt.

 

Den wichtigen Part der eng definierten Zielgruppenangebote übernimmt weiterhin der BR mit seiner Sendung „Sehen statt Hören. Diese Sendung war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr, das war und ist uns wichtig.

 

Trotz miserablen Sendezeiten wird die Sendung nicht nur von Gehörlosen, sondern auch von Schwerhörigen und interessierten Hörenden gern geschaut. Ist dem WDR bewusst, welchen Kult- und Bildungsstatus die Sendung hat?

Selbstverständlich wissen wir um die Wichtigkeit dieser Sendung, etwa 20 000 Menschen sehen sie jeden Samstag im WDR Fernsehen, allerdings mit abnehmender Tendenz. Seit 2012 hat sich der Marktanteil fast halbiert. Da wir die Sendung weiterhin ausstrahlen werden, kann ich für den Zuschauer und die Zuschauerin keine Nachteile erkennen. Die Entscheidung ist eine rein senderinterne, die letztendlich zu neuen zusätzlichen Angeboten führt.

Ich will aber auch nicht verschweigen, dass uns die lineare Ausstrahlung (=nur zu einer bestimmten Sendezeit im TV) zu schlechten Sendezeiten schon lange nicht mehr zeitgemäß schien. „Sehen statt Hören“ gehört zusätzlich ins Netz, zeitunabhängig abrufbar. Denn im Netz können wir auch umfassende Zusatzinformationen bieten.

 

Hat man eigentlich niemals daran gedacht, die 30-minütige Sendezeit zu verlängern? Themen wären sicherlich genügend da…

Da die Federführung und Hauptfinanzierung beim BR verortet ist, liegt das in seiner Entscheidung.

 

Was müsste passieren, damit die WDR Chefetage ihre Entscheidung nochmal überdenkt und doch weiterhin ein Budget bereitstellt?

Die Entscheidung ist gefallen und ich halte sie aus den oben genannten Gründen gut. Sie setzt auf Neues und Zukunftsfähiges ohne Bewährtes infrage zu stellen. Technologisch und inhaltlich gehen wir die richtigen Schritte, um Menschen mit Handikap, hoffentlich in absehbarer Zeit die volle Teilhabe am medialen Leben zu ermöglichen.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: Maria Dickmeis

 

 

 

 

Interview mit Isabel Wiemer (BR):

 

Frau Wiemer statt Geburtstagsparty mit Gebärdentortenschlacht, Streichung der Unterstützung vom WDR. Wie haben Sie die Nachricht erfahren und verarbeitet?

Isabel Wiemer: Ganz so überraschend hat uns die Nachricht nicht ereilt. Intern hatte der WDR bereits 2014 seinen Rückzug aus Spargründen angekündigt. Mit Blick auf das Jubiläumsjahr haben die Kollegen für 2015 noch einmalig verlängert und SsH damit quasi (=so gut wie) ein Geburtstagsgeschenk gemacht.

 

Welche Auswirkungen hat die Entscheidung vom WDR auf die zukünftigen Sendungen?

Der BR trägt mit über neunzig Prozent den Hauptanteil von SsH. Auch für 2016 garantiert der BR eine gleichbleibende finanzielle Ausstattung und steht damit eindeutig zu seinem besonderen Engagement zur Integration gehörloser und hochgradig hörbehinderter Zuschauerinnen und Zuschauer. SsH wird weiter wöchentlich auf dem gewohnten Sendeplatz samstags um 10:00 Uhr im BR ausgestrahlt. Mit dem Ausstieg des WDR wird das SsH-Budget um rund sieben Prozent gekürzt. Was das konkret für die Anzahl von Neuproduktionen in 2016 heißt, prüfen wir derzeit. In jedem Fall wird der BR seinen Zuschauerinnen und Zuschauern mit SsH auch zukünftig ein vielfältiges TV-Magazin mit attraktivem Themenmix anbieten.

 

Folgen auch personelle Konsequenzen? Wird das SSH Team eventuell verkleinert?

Der WDR-Rückzug hat keine personellen Konsequenzen auf das SsH-Team.

 

Welche Möglichkeiten sehen Sie noch, diese finanzielle Lücke zu stopfen? Wäre es denkbar, dass der BR die fehlenden Kosten tragen kann? Oder könnte der BR einen anderen ARD-Sender als Partner gewinnen?

Auch hierzu laufen die internen Prüfungen noch.

 

Wie sehen Sie die Zukunft vom Sehen statt Hören?

Der BR garantiert SsH weiter eine stabile finanzielle Ausstattung. In Zeiten, in denen alle ARD-Anstalten unter Spardruck stehen, ist das ein klares Bekenntnis des BR zur Absicherung des Formats.

 

SsH wird die begonnenen Entwicklungen, inhaltlicher Art sowie im Hinblick auf eine attraktive Bildsprache, konsequent weiter verfolgen. Alle Sendungen werden professionell vertont und sind damit auch für Hörende gleichermaßen attraktiv.

Das wichtigste Thema für die nächsten Monate ist natürlich das geplante „Bundesteilhabe-Gesetz“, mit dem die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessert und ihre Teilhabe und Selbstbestimmung gestärkt werden soll. Da bleiben wir kontinuierlich dran und werden auch online zeitnah über Neues informieren.

 

SsH greift regelmäßig aktuelle gesamtgesellschaftliche Themen aus der speziellen Perspektive unserer Zuschauerinnen und Zuschauer auf: ob „Pflege im Alter“, „Gehörlose Asylbewerber aus Syrien“, „Migration“, unsere zweiteilige Reihe „Gewalt gegen Frauen“ und „Wege aus der Gewalt“ oder jüngst „Sucht und Abhängigkeit“.

Zum Internationalen Tag der Gehörlosen am 26.09.2015 hat sich SsH der Kernfrage gewidmet: „Was muss getan werden, damit Menschen mit Hörbehinderung in der Mitte der Gesellschaft ankommen?“.

 

SsH steht für journalistisch und gesellschaftlich relevante Themen. Darüber vergessen wir aber keineswegs den Humor und haben mit „Rosana trifft…“ ein kleines aber feines Unterhaltungsformat innerhalb unseres Magazins entwickelt.

An unserer Aktion „Mach Mit!“ haben sich viele Zuschauerinnen und Zuschauer mit gelungenen Videos beteiligt, die immer wieder ins Programm aufgenommen werden. So können sie die Sendung auch selbst mitgestalten. Solche Aktionen wollen wir unbedingt weiter fortsetzen, zumal sie eine gelungene Verbindung von Internet und Fernsehen bedeuten. SsH ist also im besten Sinne ein bimediales (=zwei Medien, hier Internet und TV) Angebot.

 

Insgesamt wollen wir unser Online-Angebot weiter attraktiv ausbauen und verstärkt Zusatzangebote in Gebärdensprache machen. In Kürze werden wir auch einen häufig formulierten Wunsch umsetzen können: Dass unsere Zuschauerinnen und Zuschauer uns auch über Gebärdenvideos ihr Feedback zur Sendung schicken können.

 

SsH ist und bleibt also das TV-Magazin für Menschen mit Hörbehinderung in Deutscher Gebärdensprache. Wir sind zuversichtlich, dass wir auch den 50. Geburtstag von SsH im Programm feiern werden.

 

Ist es vorstellbar, dass die 30-minütige Sendezeit, bei entsprechender Finanzierung verlängert wird? Themen, wie Sie eben sagen, sind genügend da…

In der jetzigen Situation stellt sich die Frage nicht. Abgesehen davon gehen die Sehgewohnheiten eher in die andere Richtung: Nach Erfahrungen der Medienforschung nimmt die Aufmerksamkeitskurve der Zuschauer mit zunehmender Sendedauer eher ab denn zu. Jedoch arbeiten wir kontinuierlich am Ausbau des begleitenden Online-Angebots, in dem wir zusätzlich weitere interessante Themen für unsere Zielgruppe aufbereiten.

 

Danke für das Interview und ich wünsche der Redaktion weiterhin viel Erfolg!

 

Text: Judit Nothdurft

Bild Copyright: Isabel Wiemer privat

 
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