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Experten-Interview November 2016



Hörbehinderte haben unzählige Barrieren im Leben, egal wo sie hingehen.

 

Zwei Tage lang demonstrierten Gehörlose in Berlin. Mit dem Organisator Björn Blumeier habe ich mich über die Ereignisse vom Anfang Oktober unterhalten.

 

Am 01. und 02. Oktober haben über 1.000 Gehörlose lautstark in Berlin demonstriert. Haben Sie alles ganz allein organisiert oder gab es auch Unterstützung von Organisationen wie DGB oder Vereinen?

Björn Blumeier: Ich habe die Demos alleine angemeldet. Es gab keine Unterstützung seitens des DGBs oder von Vereinen. Der DGB und einige Vereine haben seit vielen Jahren Kontakte zu Politikern. Sie schreiben einander und tauschen gegenseitig Konzepte aus, denke ich. Aber was ist daraus geworden…

Ich habe mich als Privatperson angemeldet und für mich war es wichtiger, dass die Bürger privat auf die Straße gehen, da sie ja im Alltag und privat mit mehr Problemen zu kämpfen haben, als der DGB oder die Vereine. Viele Mitglieder, die im Verein sind, schauen zu, was der Vorstand erzählt und was er unternommen hat, also z.B. Politiker getroffen oder Briefe geschrieben hat. Aber nichts ist daraus geworden. Daher denke ich, dass Privatpersonen mehr Probleme haben als Vereine.

 

Gehörlose haben im Leben mehr Barrieren als andere Behinderte. Zum Beispiel stehen für Gehbehinderte, die im Rollstuhl sitzen, Aufzüge und in den modernen Immobilien Lifte und usw. zur Verfügung. Man sieht es fast überall. Für Blinde gibt es Ampeln mit Tonsignalen und die Schalterknöpfe am Aufzug sind mit Brailleschrift versehen.

Und was gibt es für Gehörlose? Nichts!

 

Was war das Ziel dieser Demonstrationen? Wollten Sie nur Aufmerksamkeit erregen oder gab es auch konkrete Aktionen?

Das Ziel war allgemein gegen Barrieren zu demonstrieren. Unser Motto hieß auch: „Hart gegen Barrieren, jetzt ist Schluss!“ Es ging mehr um die hörbehinderten Menschen. Wir wollten nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern gegen die Medien, Politik usw. protestieren. Hörbehinderte haben unzählige Barrieren im Leben, egal wo sie hingehen.

 

Es gibt kaum Dolmetscher! Ein Beispiel: Eine Gehörlose aus Berlin musste wegen einer bevorstehenden Operation (OP) zum Frauenarzt. Im Gespräch ging es um die Aufklärung über die Operation und die damit verbundene Narkose. Sie hat sich schriftlich per Zettel mit der Ärztin unterhalten. Die OP wurde abgelehnt, obwohl sie dringend war, weil kein Dolmetscher zur Verfügung stand. Sowas regt einen auf! Sowas muss aufhören. Gebärdensprachdolmetscher kosten Geld, die Kostenübernahme und auch der Termin müssen vorher geklärt sein.

 

Auf den Autobahnen gibt es zwar Notrufsäulen, um Hilfe zu holen, wenn das Auto kaputt ist. Dies kann aber Gehörlosen nicht helfen. Wenn das Handy keinen Empfang hat, können Hörbehinderte hier trotzdem keine Hilfe holen. Auf Flughäfen oder Bahnhöfen werden ständig Gleis- oder Gate-Änderungen angesagt. Aber wir können es nicht hören und entsprechend reagieren. Über die Notrufsäulen klappt die Kommunikation hier auch nicht. Im Fernsehen gibt zu wenig Untertitel und Dolmetschereinblendung. In den Hotels können Gehörlose beim Feueralarm nicht reagieren, da sie ihn nicht hören, usw.

 

Alles was heutzutage in der modernen digitalen Welt existiert, wird für Hörbehinderte nicht zur Verfügung gestellt. Leider! Daher habe ich diese Demonstrationen organisiert.Wir hatten vor den Fernsehsendern ARD, ZDF und RTL Zwischenkundgebungen gemacht. Hier hatten wir Unterschriften gesammelt und die Petition in Begleitung der Berliner Polizei beim Pförtner abgegeben. Bei der ARD kam einer der Verantwortlichen raus und sprach mit uns. Er versuchte sein Bestes und versprach, sich mit dem Vorstand in Verbindung zu setzen. So was gab es noch nie, es war ein großer Schritt! Der Mann hat über unseren Protest auch getwittert.

 

Wie haben die anderen Fernsehstudios auf die Demonstration reagiert?

Im Moment noch gar nicht. Nur der Mann von der ARD kam extra zu uns und war begeistert über die Direktheit der Gehörlosen und die Wärme, auch wegen der Gebärdensprache. Er sah unsere Protestschilder, die wir gebastelt haben und verstand uns.

Er meinte es wirklich mit voller Überzeugung, dass er sich mit dem Vorstand in Verbindung setzen möchte, dass wir mehr Barrierefreiheit im Fernsehen haben. Von den anderen Sendern kam leider keine Reaktion.

 

Sie warten also auf eine Antwort der Fernsehsender. Und wenn diese nicht zufriedenstellend ist, wie geht es weiter?

Ich warte bis heute noch! Sollte es nicht weiter gehen, werden wir eine neue Protestaktion organisieren! Mir wird schon was einfallen! Aber erstmal möchte ich mich über unsere Gesetze erkundigen.

 

Bei der Demo wurde auch das Bundesteilhabegesetz angesprochen. Inwieweit sind Sie mit dem Gesetzentwurf zufrieden?

Ich kenne zwar das neue Bundesteilhabegesetz noch nicht, weil ich noch nicht alles gelesen habe. Aber ich habe gehört, dass nirgendwo im Entwurf des Bundesteilhabegesetzes etwas über Gebärdengemeinschaft, Gebärdensprache oder Gehörlose steht. Es gibt nur ein einziges Wort „Kommunikationsprobleme“. Es sollte eigentlich mehr drin stehen, mehr für die Gehörlosen, weil Rollstuhlfahrer und Blinde mehr Barrierefreiheit haben als Gehörlose.

Es muss mehr gemacht werden für die Hörbehinderten! Wir brauchen einen konsequenten Abbau der Barrieren! Auch wenn im Gesetz drin steht, dass der Gehörlose einen Dolmetscher haben muss, gibt es immer Probleme mit der Kostenübernahme, weil es nicht lückenlos formuliert ist.

 

Was sind Ihre Forderungen?

100% Untertitel bei jedem Fernsehsender! Wir brauchen mehr Dolmetscher und die Kostenübernahme sollte die Politik regeln. Meine Idee ist das Geld aus verschiedenen Steuerabgaben einsammeln und daraus einen Fonds einzurichten.

Ein Dolmetscherfonds, das wäre was! Dolmetscher könnten schnell anwesend sein, anstatt Termine lange vorher zu vereinbaren, beispielweise Notruf-Dolmetscher, für Krankenhäuser, Unfälle usw. Ich fordere mehr Barrierefreiheit auf Bahnhöfen und Flughäfen. Museum und andere Erlebnisse sollen für uns in Gebärdensprache erlebbar gemacht werden! Arztbesuche mit Dolmetschern sollen ohne Terminabsprache möglich sein. Dolmetscher sollen angestellt werden und ihr Lohn soll von einem Fonds finanziert werden. So könnten viele Gehörlose problemlos gleich einen Dolmetscher bekommen.

Egal wie, was oder wo, unser Ziel ist, dass Hörbehinderte überall keine Kommunikationsprobleme mehr haben! Wir sind auch Menschen!

 

Was müsste die taube Gemeinschaft Ihrer Meinung unternehmen, um Politiker und Entscheidungsträger in Ihrer Denkweise für die Probleme von Gehörlosen zu sensibilisieren?

Öfter Proteste führen, Mails versenden, Petitionen einreichen, Flyer verteilen in der Öffentlichkeit und in Gebäuden, wo Barrieren vorhanden sind.

 

Seit der Demonstration sind schon ein paar Tage vergangen. Welche Rückmeldungen haben Sie erhalten?

Ich habe keine Rückmeldungen erhalten, ich plane was Neues und wir werden sehen wie die Demonstranten drauf sind. Mein Ziel wäre, dann mehr Teilnehmer als üblich zu mobilisieren!

 

Was machen Sie, wenn Sie gerade nicht Demos organisieren? Was dürfen unsere Leser über Sie erfahren?

Ich organisiere mit meinem Zwillingsbruder Arne gemeinsam die Miss & Mister Deaf Germany (Schönheitswettbewerb), Miss & Mister Deaf Stars (internationale Schönheitswettbewerb), International Deaf Fashion Week, International Tattoo Convention und internationale Poker Gala.

Von Beruf bin ich Tätowierer und Piercer. Gehörlose haben bei mir keine Kommunikationsprobleme, wenn es um Tattoos und Piercings geht.

Meine Empfehlung für die Leser: Liebe Leser, lasst nicht zu, dass ihr untergeht, steht auf, kämpft, denn ihr seid geboren, euren Weg zu gehen!

 

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!

 

Text: Judit Nothdurft

Foto: Marco Strauss & Bobi (alias Björn Blumeier)

 

 
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